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Neue synagoge berlin

Der Gelbe Schein.
Mädchenhandel 1860 bis 1930

18.08.2012 – 31.12.2012

kuratiert von Irene Stratenwerth
Leitung: Simone Eick, Hermann Simon, Chana Schütz

Der Gelbe Schein.

Millionen Mädchen und junge Frauen aus Europa verlassen in den Jahren um 1900 ihre Heimat: Sie reisen aus Hessen nach Kalifornien, aus Russland nach New York oder aus Galizien nach Buenos Aires, um dort ihr Glück und eine neue Existenz zu suchen. Für Zehntausende von ihnen führt der Weg in die Prostitution. „Der Gelbe Schein. Mädchenhandel 1860 bis 1930“ ist eine gemeinsame Ausstellung der Stiftung Neue Synagoge Berlin – Centrum Judaicum und des Deutschen Auswanderhauses Bremerhaven. Sie greift ein bislang ungeschriebenes und weitgehend unbekanntes Kapitel der europäischen Massenauswanderung auf. „Der Gelbe Schein“, ein umgangssprachlicher Ausdruck für den Prostituierten-Ausweis im vorrevolutionären Russland, ist ein Symbol für die Zwangslage vieler junger Frauen in jener Zeit: Ein Umzug vom Shtetl in Städte wie Moskau oder St. Petersburg war Jüdinnen in Russland offiziell nur erlaubt, wenn sie sich als Prostituierte registrieren ließen. Auch in Österreich-Ungarn und im Deutschen Reich hatten junge Mädchen aus den ärmeren Bevölkerungsschichten oft keine andere Überlebenschance, als ihren Körper zu verkaufen.

Der Gelbe Schein.

Eine Auswanderung in die Neue Welt wurde für sie fast immer zur riskanten Gratwanderung: Sie suchten Arbeit in Privathaushalten, Gaststätten oder Tanzpalästen und landeten im Bordell. Mit Gewalt verschleppt, mit märchenhaften Versprechen verführt oder aus freien Stücken? Die Diskussion darüber wurde schon damals vehement geführt.

Um die Wende zum 20. Jahrhundert bildeten sich zahlreiche Komitees und Initiativen zur Bekämpfung des „internationalen Mädchenhandels“. In jahrelangen Recherchen hat das Ausstellungsteam um die Kuratorin Irene Stratenwerth nach Spuren gesucht, die vom Leben dieser Mädchen und jungen Frauen erzählen – und von den Männern und Frauen, die mit ihnen Geld verdienten. Oft ist nicht mehr als ein einzelnes Fragment geblieben: Ein Foto, ein Polizei- oder Gerichtsprotokoll, eine Zeitungsnotiz, ein Brief.

Der Gelbe Schein.

Und doch entsteht aus den Fundstücken aus Archiven, unter anderem in Berlin, Hamburg, Genf und Wien, in Czernowitz, Odessa und Buenos Aires, eine berührende Schau, gestaltet und eingerichtet von Studio Andreas Heller, Architects und Designers in Hamburg. Mit Bildern, Texten, Landkarten, Briefen und Audiodokumenten gelingt eine Annäherung an die Lebensschicksale der „allein auswandernden Mädchen“.

Erstmals werden auch zwei in einem Archiv in St. Petersburg aufgefundene Varianten des „Gelben Scheins“ von 1875 und 1894 in Deutschland präsentiert. Die Ausstellung, die in Berlin und Bremerhaven zeitgleich, aber mit verschiedenen Schwerpunkten gezeigt wird, behandelt auch einen wichtigen Ausschnitt der jüdischen Sozialgeschichte: Fast vier Millionen Juden wanderten bis 1930 aus Osteuropa aus. Die meisten von ihnen gehörten zu den Ärmsten der Armen.

Der Gelbe Schein.

“Den formalen Rahmen der Ausstellung bildeten einerseits ausgewählte Orte:
Die Reise beginnt in Odessa, Czernowitz oder Warschau, führt über Berlin, Leipzig, Bremerhaven und Hamburg schließlich in die Neue Welt – nach Rio de Janeiro, Montevideo und insbesondere Buenos Aires. An allen diesen Orten finden wir Dokumente, die Fragmente aus dem Leben der Menschen
im Sexgewerbe zeigen: Fotos, Briefe, Tagebücher, Prostituiertenausweise, Polizei- und Gerichtsakten, Broschüren, Aufklärungsplakate, Zeitungsartikel, öffentliche Aushänge, Reiseberichte, Tagungsprotokolle und so weiter.” Irene Stratenwerth

Der Gelbe Schein.
„Internationaler Mädchenhandel“ – eine
Spurensuche zwischen Ost und West

Ein Aufbruch aus dem Stetl in die Großstadt, von der Tradition in die Moderne, das war für junge, jüdische Frauen in Osteuropa im späten 19. Jahrhundert fast nur auf eine Weise möglich: Sie mussten sich mit einem „gelben Schein“ als Prostituierte registrieren lassen, um die Erlaubnis zu bekommen, in Städten wie Moskau, Odessa oder Warschau zu wohnen. Und auch diejenigen jungen Frauen, die eine Auswanderung in die Neue Welt wagten, ließen sich auf eine riskante Gratwanderung ein: Sie suchten Arbeit in Privathaushalten, Gaststätten oder Tanzpalästen und landeten nicht selten im Bordell. Die Geschichte dieser „alleinreisenden Mädchen“ ist ein ungeschriebenes Kapitel der großen Auswanderungsbewegung von Ost nach West um 1900 – auch über die Drehscheiben Berlin und Leipzig sowie die deutschen Häfen Hamburg und Bremerhaven. Dabei gab es damals nicht wenige humanitäre und politische Initiativen zur Bekämpfung des „Internationalen Mädchenhandels“ – oft waren jüdische Organisationen die treibenden Kräfte. Aber sie alle waren machtlos gegenüber der Ursache von Armut und Not, die die Frauen in die Prostitution trieb, und gegen die massive staatliche Verfolgung der jüdischen Bevölkerung im zaristischen Russland.

Vieles davon ist heute vergessen, aber erneut aktuell:
Menschenhandel und Zwangsprostitution sind, laut EU-Angaben die zweitgrößte Einnahmequelle der internationalen, organisierten Kriminalität. Noch immer funktioniert sie reibungslos vor allem dort, wo Ungleichheit, Rassismus und Unterdrückung vorherrschen. Während Politik und NGO’s erneut über Hilfsprogramme für die Opfer und Maßnahmen zur Verfolgung der Täter diskutieren, weiß man – damals wie heute – sehr wenig über die Lebensrealität und die Lebenswege der Menschen, die mit sexuellen Dienstleistungen ihr Geld verdienen.

Irene Stratenwerth

„WeiSSe Sklaverei“ – Skandal und Sorge in Westeuropa

„Ich forschte, hörte, ließ mich belehren und ich erfuhr zu dem an sich Schrecklichen noch das tief beschämende: viele Juden sind Händler, viele jüdische Mädchen sind Ware. Man sagt es nicht laut, man flüstert es sowohl von jüdischer wie von christlicher Seite. Die Juden, selbst solche die an der Spitze philanthropischer Vereinigungen standen, glaubten es nicht und sprachen von Verleumdung.“ (Bertha Pappenheim, Frankfurt, 1902)

Um 1900 geht eine Welle der Sorge und Empörung durch das aufgeklärte und besonders durch das jüdische Bürgertum in Deutschland und Westeuropa: Schlimme Geschichten sind zu hören, von jungen Frauen, die gegen ihren Willen um die halbe Welt verschleppt und in Bordellen gefangen gehalten werden. In Bremen wird der Rabbiner Leopold Rosenak zum engagierten Mahner und Aufklärer gegen den Mädchenhandel, in Hamburg beschließt die Loge „B’nai Brith” 1902 den Kampf gegen die „weiße Sklaverei“ aufzunehmen, in Frankfurt bricht die Sozialreformerin und Frauenrechtlerin Bertha Pappenheim zu einer ersten Erkundungsreise nach Galizien auf.

Irene Stratenwerth

„WeiSSe Sklaverei“ – Skandal und Sorge in Westeuropa

In Berlin entsteht 1903 die weltweit erste Polizeidienststelle zur Bekämpfung des Mädchenhandels. Und in London veranstaltet die „Jewish Association for the Protection of Girls and Women“ internationale Konferenzen und Kongresse, die sich vor allem mit den Verhältnissen in den Zielländern USA und Argentinien auseinandersetzen.

„Jüdische Mädchen hört auch Ihr die Mahnung:
Weist die gewissenlosen Agenten und Kuppler von Euch, die Euch Genuss ohne Arbeit versprechen, denn sie machen Euch zu Sklaven, sie knechten Euch und früher Tod in Elend und Schande wird Euer Ende sein. Geht in die Schulen, lernt fleißig und geschickt arbeiten, dann wird es Euch nicht an Hülfe und Aufmerksamkeit fehlen.“ („An die jüdische Jugend, Mädchen und Jünglinge“, Aufklärungsbroschüre jüdischer Hilfsvereine auf deutsch, russisch, polnisch und jiddisch, ca. 1905)

Selbstverständlich sind Prostitution, Zuhälterei und Mädchenhandel kein ausschließlich jüdisches Thema. Aber Juden sind, aufgrund ihrer besonderen Lebensverhältnisse, auf allen Seiten besonders beteiligt und besonders betroffen. Die jüdische Welt schwankt zwischen Tabuisierung und offener Auseinandersetzung, weil sie fürchten muss, in einer prekären Situation antisemitische Stereotype zu nähren.

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