Post: Inge Lammel, Das Jüdische Waisenhaus in Pankow

Vorwort von Dr. Hermann Simon (2001)

Seit jeher hat mich das große helle Gebäude in der Nähe des S-Bahnhofes Pankow, der – wenn ich mich recht erinnere – noch während meiner Grundschulzeit Pankow-Schönhausen hieß, beeindruckt. Davon zeugt ein kleines 6×6-Foto, das ich mit meiner ersten Kamera etwa 1960 aufgenommen habe. Nicht allein das Haus, sondern auch und vielleicht sogar vor allem die davor parkenden amerikanischen Straßenkreuzer der polnischen Diplomaten, die dieses Haus in jenen Jahren nutzten, fanden mein Interesse.

Schon vorher hatte mich mein Vater darauf hingewiesen, dass an diesem Gebäude einstmals eine Inschrift gestanden hat, deren Umrisse noch zu erkennen waren, und zwar:

II. WAISENHAUS
DER JÜDISCHEN GEMEINDE
IN BERLIN
ERBAUT IM JAHRE 1912-13

Im Laufe der Jahre nach der Befreiung wurde das Haus von seinen Nutzern, die sich um seine Geschichte nicht scherten, mehrfach verputzt bzw. angestrichen; die Umrisse der Inschrift aber blieben, und ich fühlte mich an Brechts Gedicht „Die unbesiegliche Inschrift“ erinnert.

Die bewegte Geschichte des Hauses und seiner Bewohner, der Zöglinge, die hier einst Heimat fanden, hat Inge Lammel akribisch nachgezeichnet.

Nur wer dem Projekt von Anfang an verbunden war, weiß, wieviel Mühe und Engagement aufgebracht werden mußten, um die vorliegende Dokumentation über die Geschichte des Waisenhauses zu erarbeiten. Dafür herzlichen Dank!

Zu dieser Geschichte gehört die vergessene und auch von Inge Lammel nicht erwähnte Tatsache, dass das Gebäude fast Botschaft des Staates Israel geworden wäre, aber eben nur fast. In den Memoiren von Avi Primor, in den Jahren 1993-1999 israelischer Botschafter in Deutschland, lesen wir:

„Bald, nachdem ich in Bonn das Beglaubigungsschreiben überreicht hatte, musste ich in die alte, neue Hauptstadt, um im Zusammenhang mit dem geplanten Umzug der Botschaft die Eignung eines dafür in Aussicht stehenden Hauses zu prüfen.

Es ging um ein ehemals vornehmes, hoch elegantes Gebäude in Pankow. Mehrstöckig und mit einer Innenfläche von 6500 Quadratmetern hat es (…) der jüdischen Gemeinde in Berlin als Waisenhaus gedient (…).

Primor führt weiter aus, dass das Haus nach der Befreiung „in den Besitz der DDR-Regierung überging und von ihr als Botschaftsgebäude an (…) Polen verpachtet wurde. Schließlich, in den letzten Jahren des ostdeutschen Staates, war darin die diplomatische Vertretung Kubas untergebracht.

Nach der Wiedervereinigung übernahm die Bundesregierung den ehemaligen Prachtbau mit der wechselvollen Geschichte. Sie bot ihn der Berliner jüdischen Gemeinde, dem rechtmäßigen Besitzer, zur Rücknahme an, der aber erschien es, gemessen an der Zahl ihrer Mitglieder, als bei weitem zu groß – den 175 000, die sie Anfang der dreißiger Jahre umfasste, standen nach dem Zusammenschluss der Stadt in ganz Berlin nunmehr rund sechstausend Juden gegenüber. Andererseits verpflichtete allein schon die traditionsreich und ehrwürdige Geschichte dieser Gemeinde dazu, das ehemalige Waisenhaus in jüdischem Besitz zu halten. Der Plan, den Bau als künftigen Sitz der Botschaft Israels zu nutzen, schien von allen der Nächstliegende.

Als ich das Haus besichtigte, überkam mich ein zwiespältiges Gefühl. Seine Größe und die – wenn auch äußerlich verkommen wirkende – Pracht kamen mir für den vorgesehenen Zweck zu aufwendig vor, im Innern aber bot es einen geradezu erschreckenden, total verwahrlosten Anblick. (…) Die Rohrsysteme waren geplatzt, die Wasserleitungen verrostet, die Wände zerkratzt (…)

Das Gutachten, das ich bestellte, um mir eine ungefähre Vorstellung von der Höhe der Renovierungskosten zu verschaffen, enthielt als Voranschlag die Summe von mindestens zwanzig Millionen Mark, nicht gerechnet die Kosten, die für den zweckgerechten Innenausbau zur Botschaftskanzlei entstehen würden.“[1]

Als ich das ehemalige Waisenhaus in den Jahren 1996/97 wegen der Vorbereitung einer Ausstellung zum Gedenken an die Gründung der Berliner Jüdischen Gemeinde vor 325 Jahren mehrfach aufsuchte, bot sich auch mir das von Avi Primor geschilderte Bild. Der Zustand war verheerend; die Kubaner hatten das Haus Anfang 1991 verlassen, und niemand fühlte sich zuständig. An einen Wiederaufbau habe ich damals nicht geglaubt.

Nun ist dank der Dr. Walter und Margarete Cajewitz-Stiftung das Haus dennoch in gewisser Weise wieder auf der jüdischen Landkarte Berlins zurück. Dafür gilt dieser Stiftung mein besonderer Dank.

Hermann Simon
Direktor der Stiftung
„Neue Synagoge Berlin – Centrum Judaicum“
und des Vorsitzender des Vereins der Förderer und Freunde des ehemaligen Waisenhauses in Pankow*

[1] Avi Primor, Mit Ausnahme Deutschlands. Als Botschafter Israels in Bonn, 1997; S. 202 ff.
* Der Verein der Förderer und Freunde des ehemaligen Waisenhauses in Pankow ist heute nicht mehr existent.

Empfehlen Sie uns!