Das Verhängnis der Mark Brandenburg
Der Berliner Hostienschändungsprozess Von 1510
21.06.2010 – 30.01.2011
Das Verhängnis der
Mark Brandenburg
Im Jahr 2010 jährt sich zum 500. Mal der Berliner Hostienschändungsprozess von 1510, in dem der Diebstahl einer Monstranz und zweier Hostien aus der Dorfkirche von Knobloch (Havelland) verhandelt wurde. Der Dieb gab unter der Folter an, eine Hostie an den Juden Salomon in Spandau verkauft zu haben, der sie mit anderen Juden geschändet haben soll. In einem großen Schauprozess wurden 40 Juden und der Dieb verurteilt und am Ort des heutigen Strausberger Platzes hingerichtet.
Die Ausstellung zeichnet die Anatomie dieses inszenierten Verbrechens an den Brandenburger Juden nach und setzt sich mit seiner Rezeption auseinander. In Zusammenarbeit mit der Stiftung Neue Synagoge Berlin – Centrum Judaicum und dem Museum für Vor- und Frühgeschichte zeigt das Stadtgeschichtliche Museum Spandau Urkunden, Gemälde, Frühdrucke und unterschiedlichste Gegenstände, die Aufschluss über die religiösen, sozialpsychologischen, politischen und wirtschaftlichen Aspekte des prekären Verhältnisses von Christen und Juden in damaliger Zeit geben können.
Das Verhängnis der
Mark Brandenburg
Eine erstaunliche Entdeckung machten Bauarbeiter 1955 im Zuge von Restaurierungsarbeiten am Palasgebäude auf der Zitadelle: In den Fundamenten des mittelalterlichen Ziegelbaus stieß man auf einen großen Findling. Da auf seiner Oberfläche hebräische Schriftzeichen zu sehen waren, wurde auch der umliegende Putz von der Wand geklopft, und weitere gravierte Steine kamen zum Vorschein. Schnell fanden Archäologen heraus, dass es sich um die verschollenen Grabsteine des jüdischen Friedhofs handelte. Inzwischen sind 66 Grabsteine auf der Zitadelle geborgen, restauriert und übersetzt worden. Der älteste Grabstein datiert aus dem Jahr 1244, dem gleichen Jahr, in dem Berlin die Stadtrechte verliehen wurden, der jüngste stammt von 1474. Wann und unter welchen Umständen die Grabsteine auf die Burg Spandau gelangt sind, ist nicht überliefert, jedoch kann man mit großer Wahrscheinlichkeit davon ausgehen, dass der jüdische Friedhof in Gefolge der Vertreibung der märkischen Juden im Jahr 1510 zerstört worden ist.
Die Anwesenheit von Juden in Spandau und Berlin wird seit dem 13. Jahrhundert in Dokumenten bezeugt. Im Jahr 1324 tritt Herzog Rudolf von Sachsen für zwei Jahre dem Spandauer Rat die von den Juden zu zahlenden Abgaben ab, damit diese Einnahmen zum Bau der (heute teilweise noch erhaltenen) Stadtmauer verwendet werden. In den folgenden zweihundert Jahren verzeichnen die Spandauer Kämmereirechnungen mehrfach Eintragungen über den Grundzins für die jüdischen Einrichtungen (Kiewer, Wohnhäuser und die „Judenschule“ genannte Synagoge).
Damals besaßen die Juden ein eingeschränktes Bürgerrecht, das ihnen auch eine gewisse Autonomie gewährte. Bald jedoch verschlechterte sich ihre wirtschaftliche und politische Situation, und es kam in der Mitte des 15. Jahrhunderts in vielen Städten zu Ausgrenzung und Kriminalisierung. 1453 wurden in Breslau 41 Juden wegen angeblicher Hostienschändung verbrannt, 1492 unter dem gleichen Vorwurf 27 Juden in Sternberg (Mecklenburg), 1493 wurden alle Juden aus Magdeburg vertrieben. Unter Hostienschändung verstand man das Fluchen oder Zerstören von geweihter Hostie, die in der Kirchendoktrin nach der Wandlung als das wahrhaftige Fleisch Jesu Christi begriffen wird. Somit wurde der Angriff auf eine Hostie als Schändung des Heilands selbst empfunden.
Den Juden in der Mark Brandenburg gelang es in dieser schwierigen Zeit, einen Schutzbrief des Kurfürsten Joachim I. (1484 – 1535) zu erhalten, in dem ihnen ab 1509 für drei Jahre der Aufenthalt in seinem Land gestattet wurde und Kreditzinsen festgelegt sowie Fleischverkauf und Wahl eines Rabbiners erlaubt wurden. Daher erfolgte die Verhaftungswelle im Folgejahr vollkommen unvorbereitet.
Was 1510 geschah, wissen wir nur aus antijüdischen Propagandaschriften; eine zeitgenössische Überlieferung, welche die Ereignisse aus jüdischer Sicht beschreibt, ist nicht vorhanden.
In der Dorfkirche von Knobloch (Havelland) soll ein hausierender Kesselflicker eine Monstranz mit zwei geweihten Hostien gestohlen haben. Als er im Juni 1510 in Bernau festgenommen wurde, gab er zunächst an, beide Hostien gegessen zu haben.
Der Bischof von Brandenburg ließ den geständigen Dieb der Folter unterwerfen, unter der dieser angab, er hätte eine Hostie dem Juden Salomon von Spandau verkauft. Salomon wurde verhaftet und peinlich befragt, bis er zugab, die Hostie „lästerlich geflucht und zerstochen“ zu haben. Je ein Partikel der Hostie habe er an Juden in Brandenburg und Stendal gesandt. Auch in diesen Städten wurden die Juden sukzessive festgenommen und gefoltert, bis sie weitere Juden bezichtigten. Nach wenigen Tagen waren ungefähr 100 Juden aus Stendal, Osterburg, Brandenburg, Werben, Nauen, Spandau, Berlin, Gardelegen, Perleberg, Kyritz, Pritzwalk, Lentzen, Wusterhausen, Seehausen, Tangermünde und Plauen in Berlin eingekerkert. Um die Anklagen zu bekräftigen, griffen die Untersuchungsrichter auf die jahrhundertealte Ritualmordlegende zurück, dass die Juden zur Blutgewinnung Knaben ermordet hätten. Da nun aber in der Mark Brandenburg keine Kinder vermisst waren, wurde behauptet, dass fremde Kinder angekauft worden seien.
Anfang Juli folgte auf dem Neuen Markt in Berlin ein öffentlicher Schauprozess. Die angeklagten Juden wurden mit spitzen Ketzerhüten versehen auf eine Bühne geführt, wo ihnen und dem Kesselflicker die Anklagen und Urteile verlesen wurden. Am 19. Juli erlitten 38 Juden auf einem dreistöckigen Gerüst den Feuertod, während der (christliche) Kesselflicker auf einem eigenen Scheiterhaufen verbrannt wurde. Zwei konvertierte Juden waren zum Tod durch das Schwert begnadigt worden. Alle überlebenden Juden mussten eine Urfehde schwören und wurden mit ihren Familien aus der Mark Brandenburg vertrieben.
Erst 1539 auf dem Fürstentag in Frankfurt/Main gelang es Philipp Melanchthon, Kurfürst Joachim II. von Brandenburg (1505 – 1571) davon zu überzeugen, dass die Aussagen des Kesselflickers bezüglich der Juden unwahr gewesen waren. Daraufhin erreichte Josel von Rosheim als Wortführer der Juden, der den Prozess von 1510 in einer seiner Schriften als „Verhängnis der Mark Brandenburg“ bezeichnet hatte, ihre Wiederansiedlung. In der Folge wurden die Judenzeichen abgeschafft und 1544 im Edikt von Speyer die Aufenthalts- und Handelsrechte für Juden definiert. In diesem Zusammenhang werden die Juden „Concives“, also Mitbürger im Reich, genannt.
Die Ausstellung zeichnet die Anatomie dieses inszenierten Verbrechens an den Brandenburger Juden nach und setzt sich mit seiner Rezeption auseinander. In Zusammenarbeit mit dem Centrum Judaicum und dem Museum für Vor- und Frühgeschichte zeigt das Stadtgeschichtliche Museum Spandau Urkunden, Gemälde, Frühdrucke und unterschiedlichste Gegenstände, die Aufschluss über die religiösen, sozialpsychologischen, politischen und wirtschaftlichen Aspekte des prekären Verhältnisses von Christen und Juden in damaliger Zeit geben können.
Reena Perschke (Wissenschaftliche Mitarbeiterin),
Andrea Theissen (Museumsleiterin)