1831 – die Cholerapandemie erreicht Preußen.
Zu einem Fundstück aus dem Archiv
Pandemien sind keine neue Erscheinung, auch wenn dieser Begriff im 19. Jh. noch nicht gebräuchlich war, als die
Welt von mehreren Cholera-Pandemiewellen betroffen war.
Die Cholera ist eine hoch ansteckende Durchfallerkrankung, die unbehandelt innerhalb kurzer Zeit zum Tod führen
kann. Ausgelöst wird sie durch ein Bakterium (vibrio cholerae) und meist über verunreinigtes Trinkwasser, gelegentlich
auch durch infizierte Nahrung übertragen. Die Krankheit trat vermutlich zuerst auf dem indischen Subkontinent auf,
daher wurde sie auch als „Asiatische Cholera“ bezeichnet. Mit der zunehmenden Mobilität im 19. Jh. begann ihre
weltweite Verbreitung.
Eine erste aus Asien kommende Pandemiewelle betraf 1817-1824 vor allem Kleinasien, Ostafrika und Russland.
Die zweite Pandemie (1826-1841) nahm ihren Weg von Mekka nach Ägypten und dann weiter nach Russland.
Die zur Niederschlagung des Novemberaufstands 1830/31 in Warschau zusammengezogenen russischen Truppen
brachten die Krankheit nach Kongresspolen und damit nach Mitteleuropa. Der Erreger breitete sich bis 1832 in
ganz Europa aus und erreichte schließlich die USA. Zu weiteren Wellen kam es 1852-1860 in Asien, Russland und
dann Europa, 1863-1876 in Europa, Nordafrika und Südamerika und 1883-1896 – hier war u.a. Hamburg 1892
stark betroffen.
In Preußen versuchte man im Frühjahr 1831 mit militärischen Maßnahmen wie der Abriegelung der Grenzen und der Androhung von drastischen Strafen die Ausbreitung der Krankheit nach Westen zu verhindern. An der Ostgrenze Preußens wurde von der Ostsee bis zur österreichischen Grenze ein Sanitätskordon eingerichtet, ein Grenzübertritt war nur an wenigen Stellen nach mehrtägiger Quarantäne möglich. Praktisch bestand diese Grenzsperre aus patrouillierenden Soldaten – wer auf Zuruf nicht reagierte, konnte erschossen werden.
Trotz dieser Maßnahmen wurden Ende Mai /Anfang Juni 1831 die ersten Cholerafälle aus Danzig und Königsberg gemeldet, die Krankheit nahm von dort über die östlichen Provinzen Preußens ihren Weg nach Berlin, Hamburg und andere Städte. Entsprechend einer Instruktion vom April 1831 wurden nach einem Krankheitsfall Häuser, Straßenzüge oder ganze Stadteile bzw. Städte abgeriegelt.
Vor allem in den unteren Bevölkerungsschichten breitete sich die Krankheit rasch aus. Die Unkenntnis der Verbreitungswege, Misstrauen gegen die staatlich verordneten Abwehrmaßnahmen und die Beerdigung der Toten in Massengräbern auf gesonderten Cholerafriedhöfen führten vereinzelt zu Unruhen; Verschwörungstheorien u.a. gegen Ärzte wegen vermeintlicher Vergiftung der Armen breiteten sich ebenso aus wie Stimmen, die die Juden für die Ausbreitung der Cholera verantwortlich machten. Anders als zu den mittelalterlichen Pestzeiten kam es in Ostmitteleuropa nur vereinzelt zu pogromartigen Ausschreitungen gegen Juden.
Zu den prominenten Opfern der Cholera in Preußen gehörten der Generalfeldmarschall Graf Neidhardt von Gneisenau, dem als Oberbefehlshaber des Preußischen Heeres das Oberkommando über die Grenzsicherung übertragen worden war (gest. am 23. Aug. 1831 in Posen), sowie vermutlich auch der Philosoph Georg Wilhelm Friedrich Hegel (gest. am 14. November 1831 in Berlin). Insgesamt verstarben während dieser Welle in Preußen über 40.000 Menschen (von etwa 13 Millionen Einwohnern).
Im Archiv des Centrum Judaicum befindet sich eine Akte, die uns diese Pandemie vor 190 Jahren in ihren Auswirkungen auf das soziale Leben in einer jüdischen Gemeinde im östlichen Preußen vor Augen führt.
Sie stammt von der jüdischen Gemeinde in Sarne in der Provinz Posen. Die bis 1848 Großherzogtum Posen genannten Gebiete kamen – nachdem sie bereits im Zuge der drei Teilungen Polens (1772-1793) an Preußen gefallen waren – mit dem Wiener Kongress 1815 wieder zu Preußen. Die Bevölkerung im Großherzogtum war mehrheitlich polnisch (1816 waren von insgesamt 790.000 Einwohnern rund 521.000 Polen); zugleich war der Anteil der hier lebenden Jüdinnen und Juden mit über 6 % weit höher als in anderen Teilen Preußens.
In der unweit von Rawitsch (polnisch Rawicz) gelegenen Kleinstadt Sarne (polnisch Sarnowa, heute ein Stadtteil von Rawicz) lebten vermutlich seit dem frühen 15. Jh. Juden. Zu Beginn der preußischen Herrschaft Ende des 18. Jh. wurden hier 88 Juden gezählt, etwa 6,5 % der Bevölkerung.
Im Archiv des Centrum Judaicum sind 73 Akten der jüdischen Gemeinde Sarne aus dem Zeitraum 1829-1892 überliefert – die Gemeinde übergab ihre historischen Akten an das 1905 gegründete Gesamtarchiv der deutschen Juden in Berlin, dessen Bestände sich heute teilweise im Centrum Judaicum befinden.
Die Akte mit dem Titel „Acta der israelitischen Korporation zu Sarne betreffend die Königl[iche] Verordnung zur Abwehrung der Cholera. 1831“ wurde am 19. August 1831 angelegt.
Sie enthält neben einem Anschreiben des Bürgermeisters das vom preußischen König Friedrich Wilhelm III. am 15. Juni 1831 erlassene Gesetz wegen Bestrafung derjenigen Vergehungen, welche die Übertretung der – zur Abwendung der Cholera – erlassenen Verordnungen betreffen.
Angefügt war außerdem ein „Publicandum der Königlichen Immediat-Commission zu Berlin wegen Abwendung der Cholera“ – „unter der Auflage […], diese höchsten Verordnungen schleunigst, und spätestens auf künftigen Schabbas, den 20. d[iesen Monats] in der Synagoge den versammelten Mitgliedern verlesen zu lassen und sie über den Inhalt zu belehren“ – beide Dokumente gedruckt auf Deutsch und Polnisch.
Das Gesetz mit dem sperrigen Titel verfügte strenge Strafen bei Verstößen gegen die Pandemiemaßnahmen: bei unbefugtem Überschreiten der Sperrlinien wurde der Gebrauch der Waffe angedroht, es drohten bis zu zehn Jahre Zuchthaus oder gar die Todesstrafe. Auch wenn eine Erkrankung nicht gemeldet und ein Verstorbener heimlich beigesetzt wurde, drohten empfindliche Haftstrafen.
Im anschließenden Publicandum (öffentliche Bekanntmachung) vom 17. Juni 1831 wurde auf seit April erlassene Bestimmungen verwiesen, mit denen die obengenannten Abriegelungen der betroffenen Orte und Regionen vorgenommen wurden.
Die Epidemie erreichte Mitte Juli 1831 die Stadt Posen; am 18. Juli wurde die Stadt abgesperrt, alle Theater und Schulen geschlossen, Gastwirte durften keine sitzenden Gäste bedienen. Bis Ende November kam es immer wieder zu Erkrankungen in der Stadt, insgesamt 879 von über 25.000 Einwohnern, von denen 529 starben. Im gesamten Regierungsbezirk Posen verstarben 3.086 Menschen, über 4% der Bevölkerung, im Regierungsbezirk Bromberg 20% (4.592 Menschen). Am stärksten betroffen waren die größeren Städte. Der Kreis Kröben im Südwesten der Provinz Posen, zu dem Sarne gehörte, blieb von der Seuche weitgehend verschont.
Vergleichsweise wenige Cholerafälle gab es unter den jüdischen Bewohnern der Provinz, obwohl viele von ihnen unter ärmlichen und beengten Verhältnissen lebten – die Posener jüdische Gemeinde verlor nur 24 ihrer über 5.000 Mitglieder. Als Ursache sah man u.a. eine reinliche Lebensweise (rituelle Waschungen) und kaum verbreiteten Alkoholkonsum. Eine Rolle spielten auch die Rabbiner, v.a. der Posener Rabbiner Akiba Eger (1761-1837), der eine „mosaische Cholera-Kommission“ ins Leben rief und auf die gesunde Ernährung der Gemeindemitglieder achtete. Die Gottesdienste fanden in kleineren Gruppen nacheinander statt; auch zu den hohen Feiertagen 5592 wurde nur die Hälfte der Synagogenplätze besetzt, um die Ansteckungsgefahr zu verringern. Ebenso wurde die Zahl der Gebete reduziert, um die Dauer des Gottesdienstes zu verkürzen.
Auch wenn manche der Maßnahmen und Empfehlungen aus dem 19. Jh. heute nicht mehr so angewendet werden und die Medizin glücklicherweise große Fortschritte gemacht, kann die Beschäftigung mit früheren Pandemien Hinweise und Erklärungen für unser heutiges Verhalten geben. Quarantänemaßnahmen wie die Schließung von Theatern, Schulen, Restaurants und Kneipen, Misstrauen gegen staatlich verordnete Schutzmaßnahmen, die Verbreitung von Verschwörungsphantasien – all dies kommt uns in Coronazeiten bekannt und schon fast unheimlich vertraut vor. Manche der mit dem Auftreten der Cholera in dem polnisch-deutsch-jüdischen Städtchen Sarne/Sarnowa 1831 verordneten Maßnahmen und auch die Reaktionen der Bevölkerung auf eine unbekannte und schwer einzuschätzende Bedrohung sind von unserem heutigen Pandemiealltag gar nicht so weit entfernt.
Barbara Welker, Oktober 2021
Quellen und Empfehlungen zum Weiterlesen:
Barbara Dettke, Die asiatische Hydra. Die Cholera von 1830/31 in Berlin und den preußischen Provinzen Posen, Preußen und Schlesien, Berlin-New York: de Gruyter, 1995 (Veröffentlichungen der Historischen Kommission zu Berlin; Bd. 89)
Richard J. Evans, Tod in Hamburg. Stadt, Gesellschaft und Politik in den Cholera-Jahren 1830-1910, Hamburg: Rowohlt, 1990
Sophia Kemlein, Die Posener Juden. Entwicklungsprozesse einer polnischen Judenheit unter preußischer Herrschaft, Hamburg: Dölling und Galitz, 1997 (Hamburger Veröffentlichungen zur Geschichte Mittel- und Osteuropas; Bd. 3)
Karl Heinz Götze, Der absolute Geist, die Cholera und die Himmelfahrt des Philosophen. Hegels Tod und Bestattung (1831), in: Merkur, 74. Jg., Heft 853 (Juni 2020), S. 76-85 (https://volltext.merkur-zeitschrift.de/content/pdf/99.120210/mr-74-6-76.pdf), abgerufen am 09.04.2021