Die Mulackritze
von Lou Bela Houter, Studierende:r der Europa-Universität Viadrina Frankfurt (Oder)
In der engen Gasse ist es noch dunkler als die Uhrzeit gebietet, die Sonne wirft schon lange nicht mehr ihren schmalen Lichtstreifen auf die Dächer der nördlichen Straßenseite. Obwohl die meisten Häuser nur zwei bis drei Stockwerke hoch sind, wirkt die Mulackgasse so eng und gedrückt, dass sie gemeinhin nur ‚Mulackritze‘ genannt wird. In der Hausnummer 15 herrscht reges Treiben – in großen Lettern prangt die Aufschrift ‚Sodtkes Restaurant‘ über der schmalen Tür und dem Fenster auf Blickhöhe im Erdgeschoss. Der Geruch von gedrehten Zigaretten, abgestandenem Bier und einer aromatischen Bouillon zieht aus der sich gerade öffnenden Eingangstür. Ein älterer Mann im schwarzen, etwas abgetragenen Anzug tritt hinaus und nimmt leichten Fußes die zwei kleinen Stufen auf den Gehsteig, setzt mit einer geschwungenen Handbewegung seinen Hut auf und eilt Richtung Rosenthaler Straße. Aus dem Türspalt dringt ein Stimmengewirr, Gelächter, das Klirren von Gläsern und Flaschen. Die Musik aus dem Trichtergrammophon auf der Theke wird begleitet von einer angeregten Diskussion über die letzte Runde des Kartenspiels ‚Klaverjas‘, in der scheinbar ein Gast an einem Tisch in der Mitte des langgezogenen Raums sein letztes Geld gelassen hat. In der Ecke ganz hinten am Tresen sitzt ein stämmiger Mann mit Zigarre im Mund, vor ihm ein Zeichenblock, auf dem er mit einem Stift mit starken Strichen Portraits skizziert, während er den Frauen in aufreizenden Outfits zuhört, die neben ihm an der Theke ein Gespräch über die Kunden ihres heutigen Arbeitstags führen.
Wenn Dienstagabend wäre, würden wir vielleicht einer Gruppe Männer begegnen, von denen einige mit ihren hohen Stimmen, den haarlosen Gesichtern oder dem allzu breitbeinigen Sitz nicht ganz in das Männlichkeitsbild der Zeit passen. Donnerstagabends könnten hingegen von manchen Gästinnen unsere Weiblichkeitsideale ins Schwanken gebracht werden. Vielleicht würden wir an einem Abend mitten in ein Vereinstreffen des Ringvereins ‚Immertreu‘ platzen, in dem sich vorbestrafte Männer zusammenschlossen, gemeinsam Pläne schmiedeten und sich gegenseitig unterstützen, wenn sie wieder in den Blick der Gesetzeshüter*innen geraten waren. Vielleicht würden wir an einem Tag Magnus Hirschfeld begegnen, dem berühmten jüdischen Sexualforscher und Homosexuellenrechtler, der in der Mulackritze persönliche wie auch forscherische Kontakte knüpfte. Zu später Stunde würden vielleicht lustvolle Schreie und gedämpfte Hiebe aus der Dachkammer an unsere Ohren dringen, während unten im langgezogenen Kneipenraum munter das Tanzbein geschwungen wird.
Die angebrachten Schilder im Raum sind offensichtlich nur zur Absicherung vor dem Gesetz und für das Einsparen so mancher Vergnügungssteuer angebracht, wie mindestens die Zeichensetzung in einem Schild verdeutlicht: „Protistuierten [sic] ist der Eintritt in dieses Lokal verboten. Laut Polizei-Verordnung“ (vgl. Mahlsdorf 2001, S. 134f.; vgl. Senatsverwaltung für Bildung, Jugend und Sport (Hrsg*in) 1991, S. 26–29).
Charlotte von Mahlsdorf schreibt in ihrer Biografie: „Künstler, Schauspieler und Literaten zischten in den Zwanzigern hier ihre Molle, denn die Mulackritze war ein sogenannter »doller Laden«. Zwischen den Ganoven, Strichern und Nutten bewegte sich alles, was im Bohemien-Berlin von sich reden machte: Fritzi Massary, die Grande Dame der Berliner Bühnen, Claire Waldoff, Max Pallenberg, Bertolt Brecht, der auch nach dem Krieg Gast im Lokal war, Hubert von Meyerinck, Gustaf Gründgens, Paul Wegener, Wilhelm Bendow, Siegfried Breuer und die göttliche Dietrich, damals noch eine pummelige, unbekannte Schauspielerin“ (Mahlsdorf 2001, S. 138).
Charlotte von Mahlsdorf schreibt in ihrer Biografie: „Künstler, Schauspieler und Literaten zischten in den Zwanzigern hier ihre Molle, denn die Mulackritze war ein sogenannter »doller Laden«. Zwischen den Ganoven, Strichern und Nutten bewegte sich alles, was im Bohemien-Berlin von sich reden machte: Fritzi Massary, die Grande Dame der Berliner Bühnen, Claire Waldoff, Max Pallenberg, Bertolt Brecht, der auch nach dem Krieg Gast im Lokal war, Hubert von Meyerinck, Gustaf Gründgens, Paul Wegener, Wilhelm Bendow, Siegfried Breuer und die göttliche Dietrich, damals noch eine pummelige, unbekannte Schauspielerin“ (Mahlsdorf 2001, S. 138).
Doch wie kommt es zu dieser Mischung an Menschen? Wieso kommen genau diese Personengruppen in einer kleinen Kneipe im Arbeiter*innenviertel, in dem viele arme, migrantisierte und/oder jüdische Menschen leben, zusammen? Und mit welchen Bildern, Vorannahmen, heutigen Lesearten spielen wir, wenn wir einen Ort wie die Mulackritze und seine Besucher*innen, über die vor allem bruchstückhafte Erinnerungen einzelner Personen zusammengetragen wurden, so ausschmückend beschreiben, wie wir dies hier getan haben?
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