Schwarz-weiß Fotografie einer Menschenmenge vor dem Nähgroßhandel Joseph Sand

Handel und Kleiderherstellung für die Konfektionsindustrie

Von Justine Wiedemann,
Studierende der Europa-Universität Viadrina Frankfurt (Oder)

Dieser Text stellt zwei Beispiele vor, wie osteuropäische Migrant:innen jüdischen Glaubens ihren Lebensunterhalt innerhalb der Konfektionsindustrie verdienten. 

Berlins bekannteste Nähgarngroßhandlung Josef Sand befand sich in der Grenadierstraße 25, der heutigen Almstadtstraße 2–4. Tausende Osteuropäer:innen jüdischen Glaubens flüchteten im 19. Jahrhundert in Folge von Pogromen und auf der Suche nach besseren Arbeitsmöglichkeiten nach Berlin. Sie ließen sich vorwiegend im Scheunenviertel nieder. So auch Josef Sand, der 1905 mit seiner Frau und seinen Kindern aus dem rumänischen Jassy nach Berlin emigrierte. In Rumänien handelte Sand mit Tüchern und eröffnete nach der Emigration ein Tuchgeschäft. Vor dem Ersten Weltkrieg wandelte er seinen Laden in eine Nähgarnhandlung um. Schilder mit der Aufschrift Josef Sand Nähgarne Josef Sand und Josef Sand, Nähgarn, Leinen, Zwirn verwiesen auf das Geschäft, welches in dem Eckhaus Münzstraße/Grenadierstraße zu finden war. Die Acht-Zimmer Wohnung wurde als Firmensitz und als Wohnfläche von Josef Sand und seiner Frau genutzt. Drei Söhne ihrer zehn Kinder arbeiteten in der Nähgarngroßhandlung und kümmerten sich um die Verkäufe von Garn an Konfektionär:innen und Zwischenmeister:innen. Durch den Handel des Nähzubehörs, wurde das erfolgreiche Familienunternehmen Sand Teil der Berliner Konfektionsindustrie.

Als zweites Beispiel sind die Heim- und Werkstattnäherinnen zu nennen. Viele jüdische Migrant:innen waren Näher:innen und Schneider:innen. Diese waren für die Konfektionsindustrie von großer Bedeutung, da das Produktionssystem der Berliner Konfektion einen hohen Bedarf an Arbeitskräften verlangte. Dieses Verfahren, genannt das Zwischenmeister:innensystem, wurde in den 1840er Jahren etabliert und funktionierte als Verlagssystem. Charakteristisch für das System war die Trennung der Produktion vom Absatzgeschäft. Dies ermöglichte eine preiswerte, serielle und zügige Herstellung der Bekleidung. Das Konfektions-geschäft vergab die Entwürfe, Schnittmuster, Stoffe und Nähzubehör an gelernte Schneidermeister:innen, die sogenannten Zwischenmeister:innen. Diese wiederum beschäftigten Näher:innen in eigenen Werkstätten oder gaben die Aufträge an Heimarbeiter:innen ab. Sobald das Kleidungsstück fertiggestellt wurde, ging dieses erneut über die Zwischenmeister:innen an die Warenhäuser zurück.

 

Schwarz-weiß Fotografie einer Menschenmenge vor dem Nähgroßhandel Joseph Sand
Berlin Nähgrosshandlung Joseph Sand_Foto um 1900 (c) Bundesarchiv

Die beauftragten Näher:innen erhielten ihren Lohn nach Stückzahl. Näher:innen
in Werkstätten bekamen in den 1880er Jahren einen Wochenlohn von ca. 7–9 Mark. Heimarbeiter:innen wurde durchschnittlich ein Lohn von nur 5–7 Mark gezahlt. Das Nähen am Heimarbeitsplatz wurde fast ausschließlich von Frauen ausgeübt, für die es eine der wenigen Optionen war, finanziell erwerbstätig zu sein.

Arbeitsrechtlich waren die Frauen in der Heimarbeit nicht abgesichert. Anders als die Werkstattnäher:innen, die ab 1897 nur maximal 10 Stunden am Tag arbeiten durften, waren Heimnäher:innen zwischen 11–15 Stunden am Tag tätig. Unter schlechtesten Bedingungen mussten sie in ihren heimischen Wohnungen ihre Aufträge erledigen. Aufgrund von einseitiger Körperbeanspruchung und Bewegungsmangel kam es nicht selten zu Unterleibs- und Augenerkrankungen, Bleichsucht und Früh- und Fehlgeburten. Zudem meldeten die Berliner Gesundheitsämter eine ungewöhnlich hohe Sterberate in der Bekleidungsbranche bedingt durch Tuberkuloseerkrankungen.

Die Erfindung der Nähmaschine 1830 versprach Entlastung, doch konnten nur sehr wenige Frauen sich dieses Hilfsmittel leisten. Für eine Nähmaschine mussten Heimarbeiter:innen fast ihr gesamten Jahreslohn zahlen. Vielmehr verschärfte es die Konkurrenz zwischen Heim- und Werkstattnäher:innen.

Die Zwischenmeistereien siedelten sich eher südlich des Konfektionsviertels an. Es ist jedoch anzunehmen, dass auch im Scheunenviertel Heim- und Werkstattnäher:innen aktiv waren. Zum einen lebten und arbeiteten nachweislich Näher:innen und Schneider:innen im Scheunenviertel. Die Zeitzeugin Gittel Weiß wohnte in dieser Gegend und schreibt in ihrem Lebensbericht: „Hinter manchem Verkaufsraum ratterten Nähmaschinen, auf denen Konfektionsanzüge angefertigt wurden, denn verschiedene Ladenbesitzer waren Schneider.“ Zudem lag die Spandauer Vorstadt mit dem Scheunenviertel in unmittelbarer Nachbarschaft zum Konfektionsviertel am und um den Hausvogteilplatz. Diese Lage und die Vielzahl an Arbeitskräften, die für die Näharbeiten benötigt wurden, lassen eine Zusammenarbeit vermuten.

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