Beitrag: Wer bestimmt, was für wen Heimat und Zuhause ist?

Wer bestimmt,
was für wen Heimat
und Zuhause ist?

Und über die Aktualität des Ausspruchs von Max Liebermann
Aus unserem Newsletter vom 26. Januar 2024

„Morgen ist der 27. Januar. In Berlin und bundesweit gibt es Gedenkveranstaltungen, Initiativen wie „We Remember“ und viel Engagement. Unweigerlich geht der Blick auf die Gegenwart, auf eine Gesellschaft, in der Antisemitismus sich immer mehr zeigt und traut, genauso wie Rassismus und Menschenfeindlichkeit. Der Wille Zeichen zu setzen, so meine Wahrnehmung, ist sicherlich vorhanden. Und doch brauchen wir alle seitens der Zivilgesellschaft noch sehr viel mehr laute Stimmen für Menschenrechte, Demokratie und Rechtsstaat.

Gut, wenn sie, die Zivilgesellschaft, sich rührt. Gut, wenn sie Einrichtungen wie unsere stärkt – und nicht wegbleibt, sondern gerade jetzt kommt. Menschen können in unseren Ausstellungen und Bildungsprogrammen über jüdische Geschichte, Kultur und Gegenwart erfahren und eigene Bezüge herstellen. Da ist augenblicklich etwa die Ausstellung von und mit jüdischen Migrant:innen/Geflüchteten aus der Ukraine, da erzählen in einer Videoinstallation Migrant:innen aus Israel, Russland, Australien und anderen Orten über die Orte „ihres“ jüdischen Berlins, da ist in unserer Dauerausstellung Leo Gollanin zu hören, Kantor und Chorleiter an der Neuen Synagoge, der in Riga geboren wurde. Jüdische Geschichte ist in weiten Teilen eine Geschichte von Migrationen – und übrigens Weltgeschichte ebenso. Wer bestimmt, was für wen Heimat und Zuhause ist?

Da fallen mir die drei Originale von Max Liebermann ein, ausgestellt in unserem Repräsentantensaal, einst Raum des Gemeindeparlaments und 1942 Schauplatz der sog. „Gemeindeaktion“, in deren Zuge Hunderte von Menschen deportiert wurden, wobei in den offiziellen Berichten von „Abwanderung“ die Rede war. Nein, hier soll nicht diese Historie mit aktuellen Gewaltfantasien gleichgesetzt werden, das wäre tatsächlich eine Relativierung der Shoa. Aber der Spruch:

"Ich kann gar nicht so viel fressen,

wie ich kotzen möchte",

der Max Liebermann zugeschrieben wird beim Anblick der marschierenden SA-Horden am 30. Januar 1933 – er ist vielleicht nicht so unpassend für manche Versammlungen auch in heutiger Zeit.

Schon in den letzten Jahren haben wir uns unter dem Motto #LichterGegenDunkelheit mit vielen weiteren Gedenkstätten, Erinnerungsorten und Museen an dem Aufruf beteiligt, am 27. Januar ein (Licht-)-Zeichen zu setzen und Bilder ihrer beleuchteten Häuser in den Sozialen Medien zu teilen. In diesem Jahr werden wir anlässlich des Gedenktages für die Opfer des Nationalsozialismus unter dem Hashtag #WissenWasWar, Biografien und Wissenswertes zu Menschen der Neuen Synagoge teilen. Unsere Social-Media-Reihe „Gesichter der Neuen Synagoge“, im Januar gestartet, setzen wir fort und weiten sie aus: Wir haben begonnen mit Biografien und Geschichten von Rabbinern, Kantoren, Organisten, Chorsänger:innen vor der Nazi-Zeit – und ob und wie sie überlebten. Wir werden von mehr und mehr Menschen erzählen, für die Berlin ihr Zuhause war und ist.“

Stimmen zum 7. Oktober 2023

Ich arbeite im Museumsdienst des Centrum Judaicums, gerne möchte ich einen Stimmungsbericht für die Zeit spezifisch nach dem 7. Oktober schreiben. Mich, als Mensch mit jüdischen Wurzeln, bewegt diese Zeit natürlich sehr. Ich habe aber auch festgestellt, dass die Besucher des Museums nach dem 7. Oktober anders waren. Manche hatten Angst das Museum zu besuchen, manche waren sehr bedrückt und fast den Tränen nahe. Der Besuch eines muslimischen Pärchens aus der Türkei hat mich besonders bewegt. Sie besichtigten das Museum und meinten gleich, dass sie mich danach persönlich sprechen wollten. Ich dachte sie hätten Fragen zum Museum, aber sie haben sich unter Tränen für die Geschehnisse entschuldigt. Da standen diese zwei jungen Menschen, die gar nichts dafür können, Hand in Hand unter Tränen vor mir. Diese Geste war schon sehr bewegend. Wir unterhielten uns kurz, umarmten uns, wünschten uns Frieden und alles Gute und sie gingen ihrer Wege. 

Es kamen danach noch einige Beileidsbekundungen. Aber diese zwei jungen Leute blieben mir schon sehr in Erinnerung. Das wollte ich gerne mitteilen.

Der 7. Oktober und seine Folgen haben den eh besucherarmen Herbst in diesem Haus ganz sicher noch
ein wenig leerer und düsterer zurückgelassen. Ja, es gab und gibt die Besucher:innen, die hier und jetzt ihre Solidarität mit jüdischem Leben, das die Neue Synagoge wohl wie kein anderes Gebäude in Berlin repräsentiert, zum Ausdruck bringen und brachten.

Doch es gab und gibt leider auch diejenigen, die diesem Ort gerade jetzt fernbleiben, wenngleich ihre Gründe der Verunsicherung, Überforderung oder auch Angst im Einzelfall sicher nachvollziehbar sind.
Deutlich war dies kurz nach dem 7. Oktober vor allem am Absagen vieler Führungen / Veranstaltungen.
Ich hoffe, dies ist nur eine Phase (des Schocks, der Sprachlosigkeit) und kein Wendepunkt im Verhältnis zum jüdischen Leben in Berlin, ja in Deutschland. 

Einen tiefen Einschnitt bedeutete für mich als Betreuerin des Oral-History-Projekts der grausame Überfall der Hamas auf Israel am 7. Oktober 2023. Mit Entsetzen musste ich erfahren, dass die beste Freundin von Rotem Erez beim Supernova Sukkot Gathering in Re’im brutal ermordet wurde. Rotem hatte uns zusammen mit ihrem Großvater, dem Holocaust-Überlebenden Zvi Cohen, im Jahr zuvor ein Interview gegeben. Eine weitere Überlebende der Shoa und Interviewpartnerin aus Tel Aviv, die 93-jährige Frau Malin, leidet psychisch schwer unter dem Terrorakt und den täglichen Raketenangriffen. Frau Malin erwähnte uns gegenüber im Interview vor einem Jahr, wie stolz sie sei, dass es nun Soldaten gäbe, die sie beschützten. Diese Gewissheit ist jetzt dahin. Vielleicht ist Israel im Moment so bedroht wie nie zuvor. Das weltweit fehlende Mitgefühl mit israelischem Leid schmerzt. Die Mehrheit hierzulande schweigt oder es heißt: „Ja, aber …“. Die Hamas treibt Israel im Kampf der Bilder in ein vielleicht unlösbares Dilemma. Wahrscheinlich war das Teil des Plans. Und das macht meine Angst um dieses kleine Land so groß.

Blickwinkel

Manche wissen ganz genau Bescheid,

beurteilen und bewerten Menschenleid

Wessen Tränen sind gespielt, nicht echt?

Wer darf sich verteidigen? Wer hat Recht?

Parolen gehen leichter von der Hand,

hat man die „Wahrheit“ erst einmal erkannt.

 

Manche wissen nicht genau Bescheid,

sie blicken fragend auf das ganze Leid

Bei dem Versuch, Antworten zu finden,

bemühen sie sich, Vorurteile zu überwinden

Sie sollten öfter ihre Stimme heben,

denn ihre Haltung könnte Hoffnung geben.

Ich bin tief erschüttert, nicht nur wegen der Situation in Deutschland, sondern auch weltweit. Unverständlich ist mir nach wie vor, warum man diesen politischen Konflikt immer wieder hierherbringen muss. Alle behaupten,
sie dürfen ihre Meinungen nicht äußern, aber warum werde ich dann ständig mit solchen ekelhaften Ansichten konfrontiert? Hass und Gewalttaten gegen Juden in der Diaspora werden relativiert oder sogar gerechtfertigt unter dem Mantel des „Nahostkonflikts“. Schon diese irrsinnige Bezeichnung impliziert, dass alle Probleme in der Region auf den einzigen jüdischen Staat zurückzuführen sind. Ein Damm ist gebrochen, und ich glaube, die Situation für Juden weltweit wird nur noch schlimmer. Ich frage mich wirklich, welches Land für uns noch sicher ist. 

Seit dem 7. Oktober 2023 wird der Nahe Osten von einer Welle der Gewalt erschüttert. Seit dem Angriff der islamistischen Terrororganisation Hamas auf Israel haben Tausende Menschen in Israel und im Gazastreifen
ihr Leben verloren. Viele befinden sich nach wie vor in Geiselhaft. Andere sehen, wie ihre Kinder vor ihren Augen ermordet werden und bleiben ein Leben lang traumatisiert. Jeden Tag schauen wir zu, wie die Chancen auf ein friedliches zukünftiges Zusammenleben im Nahen Osten schwinden – wir sind Augenzeugen und wir leiden mit. Mitleid zu haben mit allen Opfern der Gewalt, ob jüdisch oder arabisch, ob israelisch oder palästinensisch – das ist das Mindeste, was wir im Moment tun können. Alles andere wäre unmenschlich. Und wir dürfen nicht der Polarisierung nachgeben, die sich im Moment auch in unserer Gesellschaft 
hier in Deutschland ausbreitet: Als Jüdinnen und Juden sind wir eine religiöse Minderheit, die sich nicht gegen eine andere religiöse Minderheit ausspielen lassen darf. Der Zusammenhalt von jüdischen und muslimischen Bürger:innen in Deutschland ist aktuell wichtiger denn je. Nur zusammen können wir dem wachsenden Nationalismus und Rechtspopulismus widerstehen und die Demokratie in unserer Gesellschaft stärken.

Am 7. Oktober wurden Säuglinge, Kinder, Frauen, Männer, ganze Familien, Überlebende der Shoah vergewaltigt, ermordet, geschändet. Über 200 Menschen als Geiseln entführt und bis heute festgehalten. Der Schock, das Entsetzen, die Hilflosigkeit darüber sitzen tief.

Das Erschreckendste und gleichzeitig Ernüchterndste im Zusammenhang mit den Ereignissen am 7. Oktober ist, zu sehen, in welcher ohrenbetäubenden Weise zu den Gräueltaten des Massakers an der israelischen Zivilbevölkerung in großen Teilen geschwiegen wird und wurde.

 

Gleichzeitig zu erleben, mit welcher Selbstverständlichkeit wieder antisemitische Äußerungen, Parolen und Anfeindungen geäußert werden, erzeugt ein beklemmendes Gefühl. Zu wissen und zu erleben, dass aus Worten Taten werden können, lässt einen vorsichtiger im Umgang mit seinen Mitmenschen werden.

Die Gedanken und Reflexionen in Folge und nach dem 7. Oktober gehen auch bei mir in viele Richtungen. Ich bleibe im Folgenden auf der Ebene der Menschen und ihren Emotionen. 

Ich stelle mir die Frage, wie Überlebende, wie Angehörige und Freund:innen der Opfer mit allem weiter leben können, wie damit, dass die Mörder, die diese Bestialitäten verübt haben, eben kaum einer gerechten Strafe zugeführt werden können? Wie können Menschen damit leben?

Was werden alle Geschehnisse mit der israelischen Gesellschaft machen, mit ihrer inneren Verfasstheit, um nicht Seele zu sagen, mit ihrem Blick auf die Welt? Wie sehr wird Israel noch weiter in eine ungute rechte Ecke rücken? Welche innere Zerreißprobe könnte vertieft werden, welches Hin- und Hergerissen-Sein aber auch gerade bei jenen, und es sind nicht wenige in Israel, die für ein universales Weltbild, für Zugewandtheit Anderen gegenüber, für Offenheit stehen und weiter darum ringen? Und dies tun und dafür eintreten in einem Kontext, in dem persönliche und allgemeine Sicherheit eben kein solches Given ist wie in Deutschland oder Europa. In dem die Menschen Angst haben müssen um ihre Kinder in der Armee. Nicht zuletzt haben sie, hat das Land die Shoah im Gepäck, die gleichzeitig Sicherheit und Verteidigung zu einem überragenden Wert werden ließ. Ich wünsche mir von vielen Menschen weltweit und in Deutschland mehr Verständnis für all dies, das stärkste Bemühen darum, diese Lebenssituationen und Emotionen nachvollziehen zu wollen, ich wünsche mir Empathie. Diese sollte vor dem Urteilen, vor allem dem Aburteilen kommen.

Und auch wenn die israelische Seite mir biografisch und emotional deutlich näher ist: Ich will nicht 
gedrängt
sein zu einem Bekenntnis, dass ich für Israel und damit gegen Palästina bin. So schlicht sind die Dinge nicht und ich bin keinesfalls gegen „die“ Menschen in Palästina und bei aller Solidarität keinesfalls für alle Denkweisen oder Handlungen gerade dieser israelischen Regierung. Das Leid der Menschen in Gaza nachzuvollziehen und auch hier hinzusehen, sind wir als Menschen schuldig und diese Menschlichkeit dürfen wir nicht aufgeben. Eine politische Lösung ist dies noch lange nicht, das ist klar. Zu dieser aber: Ich wünsche mir, dass Menschen in Deutschland bereit sind, die Komplexität der politischen Situation auszuhalten und dass sie es sich selbst nicht leicht, sondern sehr sehr schwer machen mit ihren Urteilen.

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