Bleiben?! Juden im befreiten Berlin

kuratiert von Clemens Maier-Wolthausen

Bleiben?!

Bei Machtantritt der Nationalsozialisten im Januar 1933 lebten in Berlin ungefähr 160 000 Juden. Von ihnen erlebten 8 000 im Mai 1945 die Befreiung, die meisten von ihnen dank Ihrer nichtjüdischen Ehepartner, Väter oder Mütter, die sie vor der Deportation schützten.

Von den über 54.000 Berliner Juden, die seit Oktober 1941 in die Todeslager verschleppt wurden, konnten von den Siegermächten nur 1.500 befreit werden und in ihre Heimatstadt zurückkehren.

Dazu kamen weitere knapp1500 Menschen, die in der Anonymität der Großstadt im Versteck überlebt hatten. Auch Juden aus Osteuropa, die meisten ebenfalls Überlebende von Ghettos und Konzentrationslagern, strömten seit Sommer 1945 in das befreite Berlin.

Bleiben?!

Mehr oder minder unfreiwillig waren diese DPs, „Displaced Persons“, wie sie von den Westalliierten genannt wurden, in der ehemaligen Reichshauptstadt gestrandet und wurden von der United Nations Relief and Rehabilitation Agency (UNRRA) betreut. Erst im Sommer 1948 konnten die meisten von ihnen Berlin wieder verlassen, um in den neugegründeten Staat Israel einzuwandern.

Kaum jemand konnte sich vorstellen, dass auch nur ein einziger dieser befreiten jüdischen Menschen in der Stadt bleiben würde, in der der millionenfache Massenmord befohlen wurde. Jeder einzelne hatte Verwandte und Freunde verloren, viele waren die einzigen ihrer Familien, die noch am Leben waren.

Diese Ausstellung beschreibt ihre Situation und ihre Versuche, einen Weg zurück ins Leben zu finden. Es werden Menschen vorgestellt, deren Lebensläufe veranschaulichen, wie sehr die Entscheidungen für oder gegen ein Leben im Nachkriegsberlin von den persönlichen Erfahrungen aber auch von Zufällen und gesellschaftlichen Umständen bestimmt wurden.

Ende & Anfang
Befreit im „Haus des Henkers“

Am 2. Mai 1945 schwiegen die Waffen endgültig. Für die meisten Berliner bedeutete dieser Tag den Zusammenbruch. Für diejenigen, die dem Regime widerstanden hatten, und für alle überlebenden Juden war es der Tag der Befreiung. Endlich war die dauernde Angst um ihr Leben vorbei, hatten Demütigungen und Zwangsarbeit ein Ende.

Dieser Erleichterung stand aber auch ein anderes Gefühl gegenüber: die Trauer um die Ermordeten aus Familie und Freundeskreis. Mit jedem Tag schwanden die Chancen, dass noch jemand aus den Lagern zurückkehren würde. Dazu kam die Einsicht, dass von der Umwelt weder Mitleid noch wirkliche Hilfe zu erwarten waren. Die Überlebenden waren auf sich allein gestellt. Nur Manche konnten mit Hilfe der Besatzungstruppen rechnen.

Im Mai 1945 drehte sich alles um die Beschaffung von Nahrung und Obdach in der weitgehend zerstörten Stadt. In ehemaligen -Gemeindeeinrichtungen wurden Unterkünfte und Suppenküchen eingerichtet, und man bemühte sich um gegenseitige Hilfe. Bereits wenige Tage nach der Befreiung fanden sich an verschiedenen Orten in Berlin jüdische Menschen zu Gottesdiensten zusammen. Bis Ende September 1945 schlossen sich diese „Einzelgemeinden“ zur Jüdischen Gemeinde zu Berlin mit Hauptsitz in der Oranienburger Straße 28 zusammen. Die materielle Not blieb so groß, dass die Gemeinde noch lange auf Spenden internationaler jüdischer Hilfsorganisationen angewiesen war.

Von der Zwangsarbeit
zurück ins eigene Geschäft.
Fritz Selbiger, Glasermeister

Schon der Vater von Fritz Selbiger gründete 1876 eine Glaserei. Die Firma erarbeitete sich einen guten Ruf, den Fritz dann als Glasermeister fortführen sollte. Erich Selbigers Mutter Regina war Nichtjüdin. Da er und seine zwei Schwestern aber der Jüdischen Gemeinde angehörten, definierten die Nationalsozialisten ihn als „Geltungsjuden“ und zwangen ihn erst zur Auflösung seines Geschäfts und anschließend zur Zwangsarbeit bei der Firma Kodak.

Während der sogenannten Fabrikaktion im Februar 1943 wurden er, seine Ehefrau Edith und seine Schwestern an ihren jeweiligen Arbeitsstellen verhaftet. Nur ihm gelang es, sich zu retten. Als „Mischling ersten Grades“ musste er dennoch anschließend weiter in Berlin Zwangsarbeit leisten. Seine Frau und seine beiden Schwestern wurden ermordet. Trotz der bitteren Erfahrungen und der Ungewissheit über das Schicksal seiner Verwandten entschloss sich Selbiger nach der Befreiung für den Wiederaufbau des väterlichen Betriebs.

Wie bei allen anderen überlebenden Juden in Berlin war das unaufgeklärte Schicksal der Familie das wichtigste Thema im Leben Selbigers. Bis 1947 suchte er nach seiner Frau und anderen Familienangehörigen, bis er einsehen musste, dass keine Hoffnung mehr bestand.

Zurück aus Auschwitz Der Orthopäde Erich Cohn

Den wenigen deutschen Überlebenden der Konzentrationslager war es zumeist psychisch unmöglich, in ihre Heimat zurückzukehren. Einer der wenigen, die jedoch nach Berlin zurückkehrten, war der Arzt Erich Cohn.

Cohn emigrierte bereits im Sommer 1933 nach Italien, wo er sein Medizinstudium abschloss. 1938 wurde er interniert und 1944 zusammen mit anderen italienischen und ausländischen Juden deportiert und musste in einem Außenlager von Auschwitz Zwangsarbeit leisten.

Erich Cohn lernte unmittelbar nach der Befreiung Nelly Lescheczer kennen, die ebenfalls Auschwitz überlebt hatte. Beide heirateten noch in einem DP-Lager. Zunächst kehrte sie in ihren Heimatort Oradea im heutigen Rumänien zurück, um nach Überlebenden ihrer Familie zu suchen. Es war vergebens, wie die meisten, die den Holocaust überlebt hatten, fand sie niemanden, der noch lebte. So entschloss sich das Paar, es zunächst in Berlin zu versuchen. Tatsächlich waren Erichs Eltern aus dem Konzentrationslager Theresienstadt zurückgekehrt, der Vater starb jedoch bereits 1950, die Mutter 1961. Bereits kurz nach seiner Rückkehr fand Erich Cohn Arbeit als Orthopäde in einem der Auffanglager, das die Jüdische Gemeinde für Überlebende eingerichtet hatte. Bald darauf ließ er sich als Facharzt für Orthopädie in Berlin-Friedrichshain nieder. Überall herrschte Mangel an medizinischem Personal und seine Praxis florierte schnell. Doch muss es ihm öfter schwer gefallen sein, Patienten, die zur Generation der Täter gehörten, unvoreingenommen zu begegnen.

Zwischen den Stühlen
Wiederaufbau inmitten des Chaos

Für die meisten überlebenden Juden, die sich nach der Befreiung aus welchen Gründen auch immer in Berlin aufhielten, stand eines fest: Sie wollten hier nicht auf Dauer bleiben. Im Juni 1948 bekräftigte dies der Jüdische Weltkongress in seiner Resolution, dass das jüdische Volk „entschlossen sei, nie wieder auf dem blutgetränkten Boden Deutschlands zu siedeln.“

Bis 1952 verließen die meisten Juden Deutschland und ließen sich im Staat Israel oder in den USA nieder. Auch die, die blieben, taten dies nicht immer freiwillig. Sie suchten weiterhin nach Verwandten, bemühten sich, ihr Eigentum zurück zu erlangen oder hatten einfach nicht mehr die Kraft, in ein fremdes Land auszuwandern.1953 kam es zur Spaltung der Jüdischen Gemeinde.

Die Jüdische Gemeinde im Westteil der Stadt wurde zu einem wichtigen gesellschaftlichen Faktor, und es entwickelte sich eine kontinuierliche und konstruktive Zusammenarbeit mit dem Senat von Berlin, was vor allem das Verdienst von Heinz Galinski, ihrem langjährigen Vorsitzenden, war. Der Neubau des jüdischen Gemeindehauses in der Fasanenstraße an Stelle der zerstörten prächtigen Synagoge kündete Ende der Fünfziger Jahre von einerjüdischen Gemeinde, die bleiben und mitwirken wollte.

Jüdisches Leben in Ostberlin war ungleich schwieriger zu gestalten. In einer sozialistischen Gesellschaft gab es eigentlich keinen Platz für Religion. Da die Juden von dem faschistischen Regime jedoch so grausam verfolgt wurden, sah sich die DDR in der Pflicht, jüdisch-religiöses Leben möglich zu machen. Die nur aus wenigen Mitgliedern bestehende Gemeinde hatte ihre Synagoge in der Rykestraße in Prenzlauer Berg, eine koschere Schlächterei, und für das jüdische Gemeindeleben nutzte man die unzerstörten Räume neben der
Neuen Synagoge in der Oranienburger Straße.

Abschlussfilm “Zerstörte Vielfalt” Kulturprojekte Berlin

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