Wo ist Lemberg?

Lemberg, Lwów, Lwiw

an der Schwelle zwischenOst und West

02.09.2007 – 06.01.2008
kuratiert von Ronald Hinrichs, Irene Stratenwerth

Irene Stratenwerth, Ronald Hinrichs

Wo ist Lemberg?

Lemberg, Lwów, Lwiw – in dieser Stadt lebten Menschen verschiedenster Kulturen und Ethnien über Jahrhunderte hinweg meist friedlich zusammen. Die Stadt an der Schwelle zwischen Ost und West war ein wichtiges Zentrum des europäischen Judentums, oft ein Ort der Zuflucht vor antisemitischer Verfolgung, aber auch des Aufbruchs aus der Enge der galizischen Schtetl. Obwohl ihre Machthaber häufig wechselten – etwa zwischen Polen, Russland und Österreich – entwickelte die Stadt in der Mitte des alten Europa ihren ganz eigenen, unverwechselbaren Stil. Hier konnte sich eine jüdische Kultur jenseits von Ausgrenzung und Gettoisierung entfalten – bis der Zweite Weltkrieg und der Nationalsozialismus die Geschichte dieser lebensfrohen und außergewöhnlich aktiven Stadt brutal beendete.

Die rund 120 000 Lemberger Juden wurden von den Nationalsozialisten ermordet, etwa ebenso viele Polen vertrieb die Sowjetunion nach dem 2. Weltkrieg aus Lwów, viele Ukrainer starben im Gulag oder verbrachten Jahrzehnte in der Verbannung. Trotz allem aber blieb Lwiw eine „Stadt der verwischten Grenzen“ (Joseph Roth) und ein Stück subversives „Ausland“ in der Sowjetunion. Und mit dem Kampf um demokratische Verhältnisse in einer unabhängigen Ukraine hat auch die Wiederentdeckung der Stadtgeschichte durch ihre jetzigen Bewohner begonnen.

Irene Stratenwerth, Ronald Hinrichs

Wo ist Lemberg?

Die Ausstellung in den historischen Räumen der Neuen Synagoge Berlin zeigte die faszinierende Geschichte und Gegenwart eines Ortes, an dem sich einst visionäre Wissenschaftler, internationale Bühnenstars, berühmte Literaten und viele heute vergessene Künstler trafen. In „12 Bausteinen einer Stadt“, wurden unter anderem die Geschichten von heute zerstörten Synagogen, aber auch von verfolgten Christen erzählt, von exzeptionellen Wissenschaftlern und Ärzten, von Theatern und Kaffeehäusern. Das Bausteinprinzip der Ausstellung – jede Station steht für ein Gebäude, das sich aus einfachen Würfeln zusammensetzt – und einen virtuellen Stadtrundgang mit ganz unterschiedlichen Einblicken gewährt. Gezeigt wurden u.a. die polnisch-jüdischen Radio-Kabarettisten „Szczepko und Tonko“ mit Ton- und Filmdokumenten aus den Dreißiger Jahren, die vergessenen Werke einer jiddischen Dichteravantgarde aus dem Lemberg der Zehner und Zwanziger Jahre, Filmbeiträge über die ukrainische Geschichte Lwiws der ukrainischen Journalistin Liuba Sorokina, eine Installation der Berliner Künstler Pit Arens über den Lemberger Arzt und Wissenschaftstheoretiker Ludwik Fleck.

Weitere Künstler*innen der Ausstellung

Künstler, Fotografen, Besucher und (ehemalige) Bewohner der Stadt zeigten ihren ganz eigenen Blick auf Lemberg: – der Maler Jurko Koch und der Konzeptkünstler Volodja Kaufmann – Die ukrainische Papierkünstlerin und Designerin Olena Turianska hat den Salon der Opernsängerin Salomea Kruschelnytska als Modell nachgebaut, – eine Hörstation präsentiert die Lemberg-Texte des Schriftstellers Juri Andruchowytsch, – die Fotografin und Künstlerin Suzanna Lauterbach (Tel Aviv/Berlin) zeigte zwei Fotoserien aus den Jahren 1992 und 2007, – Mitglieder der Jüdischen Gemeinde zu Berlin, die in den Neunziger Jahren nach Berlin emigrierten, erzählten von ihren Erfahrungen im sowjetischen Lwow

Bahnhof

Transport in alle Richtungen

Seit 1862 war Lemberg via Przemyśl mit Krakau und Wien verbunden. Die Eisenbahn war Symbol für die Verbindung der Stadt mit der ganzen Welt. Es soll sogar Pläne gegeben haben, eine Bahnstrecke von London via Lemberg bis nach Bombay zu bauen. Der prachtvolle neue Bahnhof, der 1903 eingeweiht wurde, symbolisierte die großen Hoffnungen, die sich an das neue Verkehrsmittel knüpften. Tatsächlich wurde die Eisenbahn in Lemberg aber auch zum Transportmittel von Krieg und Gewalt. Sie brachte die Truppen der russischen, deutschen und sowjetischen Besatzer in die Stadt, und sie diente der Deportation von Juden in die Vernichtungslager. Auch die Verschleppung und Vertreibung von Ukrainern und Polen durch die Sowjetregierung, von 1939 bis 1941 und ab 1945, geschah mit der Eisenbahn.

Buchmarkt

Handelsplatz der Literaturen

Jeden Tag und bei jedem Wetter findet in Lemberg der Buchmarkt statt: Zu Füßen des Denkmals für Iwan Fedorow, dem ersten russischen Buchdrucker, der im 16. Jahrhundert aus Moskau floh und zeitweise in Lemberg lebte. Schon damals war die Stadt ein bedeutender Umschlagplatz für Bücher und Ideen. Neuen Auftrieb bekam der Lemberger Literaturbetrieb nach der Angliederung Galiziens an Österreich: Im 19. Jahrhundert wurden viele Druck- und Verlagshäuser, Zeitungen und Zeitschriften neu gegründet. Nebeneinander und vielfältig miteinander verwoben entstanden in Lemberg wichtige Beiträge zur österreichischen, ukrainischen, jiddischen und polnischen Literatur. Zahlreiche Übersetzungen vermitteln zwischen den Sprachen und Kulturen. Heute setzt die alljährliche Lemberger Buchmesse diese lange Tradition fort.

Kirchen

Konfessionen und Konflikte

Seit ihrer Gründung war Lemberg eine Stadt der religiösen Vielfalt – und der Konflikte zwischen den Glaubensrichtungen. Zeitweise gab es über 60 Kirchen in der Stadt. Die wichtigsten christlichen Strömungen waren seit dem 13. Jahrhundert: die – ukrainischen – Orthodoxen, die deutschen und polnischen Katholiken und die Armenier. Alle drei Gruppen hatten seit dem 16. Jahrhundert ihren eigenen Bischofssitz in Lemberg. Um 1700 unterstellte sich die orthodoxe Glaubensgemeinschaft dem Vatikan und wurde damit zur griechisch – katholischen (oder unierten) Kirche. Diese wurde 1946 von der Sowjetregierung aufgelöst, während die römisch-katholische Gemeinde nach der Vertreibung der polnischen Bevölkerung nur noch eine Randexistenz führte. Seit 1989 blüht das religiöse Leben in Lemberg in allen Schattierungen wieder auf.

Jüdische Gemeinden

Leerstellen im Gedächtnis der Stadt

Bis 1941 gab es 45 Synagogen und Bethäuser in Lemberg – ein Ausdruck religiöser Vielfalt auch innerhalb des Judentums. Schon seit dem 16. Jahrhundert existierten zwei getrennte jüdische Gemeinden in der (heutigen) Altstadt und in der Krakauer Vorstadt. Im 19. Jahrhundert differenzierte sich die Glaubensgemeinschaft weiter aus: Liberale Kreise strebten die Akkulturation an die deutsche bzw. polnische Sprache und Kultur an. Orthodoxe und chassidische Juden forderten die Bewahrung der durch religiöse Traditionen geprägten Lebensformen. Von einer Aufbruchstimmung zeugen die vielen jüdischen Institutionen, die um 1900 neu entstanden: Schulen, Theater und Krankenanstalten. Knapp fünfzig Jahre später, von 1941 bis 1944, wurden praktisch alle weltlichen und religiösen Einrichtungen des Lemberger Judentums durch die nationalsozialistischen Besatzer zerstört.

Kneipen und Kaffeehäuser

Bühne, Karneval und Revolution

Der Ruf der Lemberger Kaffeehäuser und Kneipen ist legendär. Manchmal opulent, oft originell ausgestattet, wurden sie um 1900 zum Treffpunkt für Maler, Literaten, Musiker, Wissenschaftler und ganz normale Bürger. Besonders da, wo Künstler und Gelehrte unterschiedlichster Kulturen und Subkulturen zusammenkamen, konnten die Nationalitäten und Milieus einander kreativ befruchten: Etwa im „Atlas“ am Rynok, wo kleine Kunstwerke und politische Tageskommentare an die Wände gekritzelt wurden oder im „Szkocka“ an der Akademicka, wo mathematische Formeln die Marmortische bedeckten. Außer Erinnerungstexten und einigen alten Postkarten ist von der Welt der Lemberger Kaffeehäuser so gut wie nichts geblieben. Nicht wenige der einst prachtvollen Innenräume dienen heute als Bankfilialen. Neuerdings aber blüht die Kaffeehaus- und Kneipenkultur in Lwiw wieder auf.

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