JudeninBerlin

1938-1945

08.05.2000 – 29.10.2010

Projektleitung Beate Meyer und Hermann Simon

Juden in Berlin 1938 bis 1945
Einführung zur Ausstellung und zum Begleitband

Beate Meyer, Hermann Simon

„Das Leben unserer Menschen […] wäre trostlos, wenn nicht drei Dinge wären, die es aufrechterhalten: der unerschütterliche Mut, mit dem die Leiter der jüdischen Behörden die jüdische Arbeit weiterführen; das warme Interesse, das das amerikanische Judentum an dem Schicksal seiner Brüder in Deutschland nimmt, – und die unzerstörbare Hoffnung auf eine bessere Zukunft“[1], schrieb der ehemalige Berliner Rabbiner Max Nussbaum nach seiner Emigration in die USA im Spätsommer 1940. Nussbaum hatte die Verhaftungen während des Pogroms beobachtet, die Bespitzelungen durch die Gestapo, und die erzwungene Auswanderung samt finanzieller Ausplünderung am eigenen Leibe erfahren. Die Reverenzerweisung an das amerikanische Judentum mag von seinem eigenen Standpunkt aus verständlich sein, wurde aber von seinen Schicksalsgenossen keineswegs geteilt. Für die unmittelbare Zukunft stellte Nussbaum eine leider falsche Prognose: Das Leben der Berliner Juden wurde in den Folgejahren immer trostloser, die Arbeit der jüdischen Leiter von Gemeinde und Reichsvereinigung immer schwieriger und gefährlicher, das Interesse der ausländischen Glaubensbrüder geringer und die Hoffnung auf eine bessere Zukunft verwandelte sich bereits ein gutes Jahr später in Todesangst.
Die Stiftung „Neue Synagoge Berlin – Centrum Judaicum“ widmete dieser bedrückendsten Phase der Verfolgung eine besondere Ausstellung: Aus der Perspektive der Betroffenen und ihrer Organisationen werden verschiedene Erfahrungsbereiche der Jahre zwischen 1938 und 1945 betrachtet. Aus Nachkriegsberichten von Überlebenden, Archivmaterial über die Toten, aus Prozeßakten und den wenigen erhalten gebliebenen Unterlagen der Jüdischen Gemeinde, in Interviews mit Zeitzeugen und Dokumenten aus deren privaten Sammlungen entstand ein vielschichtiges Bild der Lebensumstände verfolgter Juden zwischen dem „Schicksalsjahr“ 1938 und der Befreiung durch die Roten Armee im Mai 1945.

 
 Yad Vashem, 01/232, Bericht Max Nussbaum, S. 15.

Wer sich mit diesen Jahren der Verfolgungsgeschichte

befaßt, stößt sehr schnell auf das Problem, daß es eine Fülle stadtteilbezogener, biographischer und sonstiger Literatur gibt, die im weitesten Sinne zum Thema gehört, eine systematische historische Aufarbeitung der Judenverfolgung in Berlin bisher jedoch fehlt. Zwar sind hier – vor allem von Wolf Gruner – wichtige Grundlagenforschungen vorgenommen worden, aber eine Arbeit, die allgemeine staatliche Verfolgungspolitik, gesellschaftliche Reaktionen und Aktionen sowie die Perspektive der Verfolgten integrativ zusammenführt, steht immer noch aus. In einer solchen Arbeit müßten auch die „Berliner Besonderheiten“ berücksichtigt werden, wie etwa schikanöse Anweisungen des Berliner Polizeipräsidenten Wolf Graf von Helldorf, Gauleiter Joseph Goebbels’ Ehrgeiz, ein „judenfreies“ Berlin zu präsentieren, oder Albert Speers Germania-Planungen. Die für die Ausstellung inhaltlich Verantwortlichen haben sich bemüht, Forschungslücken auszufüllen, jedoch konnte dies in der Kürze der Zeit nur partiell gelingen. Etliche Ausstellungen haben die Berliner in den letzten Jahren mit einzelnen Themenfeldern intensiv bekannt gemacht. Die Themen reichen vom jüdischen Widerstand über die Geschichte des Jüdischen Kulturbundes bis hin zur Liebesgeschichte von Aimée und Jaguar das Exil in Shanghai oder die Geschichte des Ghettos Lodz.

[1] Vgl. Erica Fischer, Aimée und Jaguar. Eine Liebesgeschichte – Berlin 1943, Berlin 1994

Unsere Ausstellung „Juden in Berlin 1938 -1945“

baut auf diesen Leistungen auf und bietet gleichzeitig Neues, ohne natürlich Anspruch auf Vollständigkeit zu erheben. Sie unterscheidet sich vor allem in drei Punkten von den bisherigen Expositionen:

  • Wir konzentrieren uns auf den Zeitraum von 1938 bis 1945, in der die staatliche Politik der „forcierten Auswanderung“ in die des Judenmords überführt wurde. Im Zentrum unserer Ausstellung stehen die Personen und Institutionen, die nach den Vertreibungs- und Deportationswellen jeweils in Berlin verblieben waren. Exponate, Dokumente und Texte geben Einblicke in die Arbeits- und Lebensbedingungen der Juden und ihr – oft erfolgloses – Bemühen um Selbstbehauptung, um Menschenwürde und um Überleben.
  • Die Exponate erzählen im wahrsten Sinne des Wortes Geschichten: Geschichten von exemplarischen und außergewöhnlichen Ereignissen, von wiederkehrenden und einmaligen Erlebnissen. Die Texte werden nicht auf Schautafeln zu lesen sein, sondern mittels Audio- und Videotapes per Kopfhörer bzw. Bildschirm akustisch oder optisch präsentiert. Deshalb beziehen wir möglichst viele historische Ton- bzw. Filmaufnahmen ein, so beispielsweise die Zeugenaussage Hildegard Henschels im Prozeß gegen Adolf Eichmann, der von April bis Dezember 1961 vor dem Obersten Gericht des Staates Israel in Jerusalem geführt wurde. Hildegard Henschel war Mitarbeiterin der Reichsvereinigung der Juden in Deutschland (RV) und als Theresienstadt-Überlebende Chronistin dieser Jahre. Sie hatte durch ihre Ehe mit Moritz Henschel, dem letzten Vorsitzenden der RV, einen tiefen Einblick in das Verfolgungsgeschehen. In anderen Ausschnitten aus Hör- oder Fernsehdokumentationen der letzten fünfzig Jahre begegnen uns inzwischen verstorbene Zeitzeugen, wie der Quizmaster Hans Rosenthal oder der frühere Berliner Gemeindevorsitzende Heinz Galinski, aber auch unbekannte, weniger Prominente kommen zu Wort. So haben wir für die Ausstellung Videointerviews mit Zeitzeugen gedreht, die heute in Israel, den USA, Großbritannien, Schweden, in Berlin oder anderen Städten der Bundesrepublik leben.
  • Besondere Intensität gewinnt die Ausstellung dadurch, daß sie am historischen Ort des Geschehens, nämlich in der Neuen Synagoge und den angrenzenden Gebäuden, gezeigt wird: Hier befand sich der Sitz der Jüdischen Gemeinde bis zu deren zwangsweiser Auflösung am 29. Januar 1943. In diesen Räumen bemühten sich die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter darum, das Schul- und Hortwesen aufrechtzuerhalten, Gottesdienste zu organisieren, Unterkünfte zu vermitteln, als Juden aufgrund der Gesetze und Anordnungen exmittiert wurden, oder sie mit Kleidung und Essen zu versorgen. Von hier aus schickte die Gemeinde ihre Bediensteten gezwungenermaßen als Ordner zu denjenigen, die auf der Deportationsliste standen, um sie abzuholen. Hier hielt die Gestapo die Gemeindeangestellten als Geiseln fest, als am 20. Oktober 1942 Mitarbeiter „abgebaut“, d.h. deportiert werden sollten und sich einige dem durch Flucht entzogen.

Im oberen Stock des Gebäudes befand sich das 1905 gegründete Gesamtarchiv der Juden in Deutschland, für die Nationalsozialisten eine willkommene Sammlung von Abstammungsunterlagen, die später vom Reichssippenamt beschlagnahmt wurde. Die Gestapo baute diese Kartei systematisch zu Verfolgungszwecken aus.

[1] Vgl. Erica Fischer, Aimée und Jaguar. Eine Liebesgeschichte – Berlin 1943, Berlin 1994

Die Ausstellungsbesucher wurden in
insgesamt fünfzehn Stationen

mit einzelnen Aspekten der Judenverfolgung in Berlin bekannt gemacht. Die Station 1 beleuchtet die Ereignisse des Jahres 1938 mit ihren weitreichenden Folgen: Die „Juni-Aktion“, in der (meist wegen Verstöße gegen die zahlreichen Verordnungen) vorbestrafte Juden zusammen mit „Arbeitsscheuen“ und „Asozialen“ verhaftet und jüdische Geschäfte beschmiert wurden; die sogenannte Polen-Aktion, in der Juden polnischer Staatsangehörigkeit über die Grenze abgeschoben wurden; schließlich den November-Pogrom, bei dem 12.000 Berliner Juden verhaftet und in die Konzentrationslager Sachsenhausen und Buchenwald gebracht, Synagogen in Brand gesteckt und Läden geplündert wurden. Im Hörtext berichten Zeitzeugen von der Zerstörung von Gotteshäusern, insbesondere der Synagoge Fasanenstraße, von Mißhandlungen und der KZ-Haft. In einer Vitrine zeugen Schellackplatten mit Synagogalmusik, die der Arzt Kurt Marcuse aus den Trümmern der ausgebrannten Synagoge Prinzregentenstraße gerettet und dadurch für die Nachwelt erhalten hat. Auch an zwei jüdische Jungen wird erinnert, die Torarollen aus dem „Friedenstempel“, der Synagoge Markgraf-Albrecht-Straße, bargen und in Sicherheit brachten. Der Kultusdezernent der Gemeinde, Elieser Ehrenberg, bemühte sich, beiden Jungen zur Auswanderung zu verhelfen. Nur in einem Fall gelang dies; der andere Junge wurde deportiert und ermordet.

Die Ereignisse der Pogromnacht

forcierten die Zwangsverkäufe jüdischer Geschäfte, die in der Ausstellung am Beispiel der Zigarettenfabrik Garbáty zu hören und zu sehen sind (Station 3), und die Emigrationsbemühungen (nicht nur) der Inhaftierten (Station 2). Der heute in den USA lebende Walter Philipp, der Berlin zusammen mit seinen Eltern gerade noch verlassen konnte, als schon die ersten Deportationszüge gen Osten rollten, lieh uns die Reisepässe seiner Eltern, sein Gebetbuch, das er ein Jahr zuvor zur Bar Mizwa in der Neuen Synagoge (Oranienburger Straße) geschenkt bekommen hatte, und seine Menora, die er trotz Gepäckbeschränkung mitnahm und sorgsam über sechzig Jahre gehütet hat. Es ist ihm nicht leicht gefallen, diese Gegenstände fast sechzig Jahre später aus der Hand zu geben und dann auch noch gerade nach Berlin auszuleihen. Um so mehr danken wir ihm stellvertretend für alle, die sich dazu entschlossen, uns ihre Erinnerungsgegenstände zeitweise zu überlassen, damit wir sie in der Ausstellung zeigen können.

Walter Philipp konnte zusammen mit seinen Eltern ausreisen, Ruth Wing hingegen, die Tochter des bekannten Schauspielers Ben Spanier, sah ihre Eltern nie wieder. Während sie mit einem Kindertransport in Sicherheit gebracht worden war, wurden die Eltern aus Berlin deportiert und ermordet.

Geht es in der Station 2

eigentlich um die Emigration, so spielt auch hier, wie in jeder anderen Station der Ausstellung, das Thema Deportation, das ausführlich in Station 8 behandelt wird, bereits eine Rolle, und zwar behandelt Station 2 die Deportation derjenigen, die nicht rechtzeitig emigrieren konnten, weil sie zu alt, zu arm waren oder sich zu spät zur Auswanderung entschlossen hatten bzw. ihnen die Einwanderung nicht ermöglicht worden war. Hatte jemand gegen eine der zahlreichen Verordnungen verstoßen, die in der Station 4 gezeigt werden, insbesondere den „Judenstern“ nicht getragen (Station 5), konnte dies zu „Schutzhaft“ und damit zur Deportation führen. Junge Zionisten wurden aus den zu Zwangsarbeiterlagern umgewandelten Ausbildungsstätten (Station 6) deportiert; jüdische Zwangsarbeiter (Station 7) im Rahmen der „Fabrik-Aktion“ (Station 9). Die Deportation steht als drohendes Verhängnis im Hintergrund, wenn Menschen berichten, die im Versteck überlebt haben (Station 11) und als Motivation für die jüdischen „Greifer“, die noch den letzten Untergetauchten auffinden mußten (Station 10). Auch dort, wo die Tätigkeit der Reichsvereinigung der Juden in Deutschland und der Jüdischen Gemeinde thematisiert wird (Station 12), geht es um die Mitarbeit der Jüdischen Gemeinde an der „Abwanderung“, das Schicksal einzelner Repräsentanten (Station 13), um die Deportation von Gemeindeangestellten im Oktober 1942 (Station 14) und die Fortexistenz der Reichsvereinigung als Rest-Reichsvereinigung, die der Gestapo bei der Zusammenstellung der Transporte behilflich sein mußte (Station 15).

Deportationen

Nach Schätzungen haben ungefähr 7.000 Berliner Jüdinnen und Juden angesichts der ausweglosen Situation Selbstmord begangen. Eine Vitrine zeigt das damals gebräuchlichste Mittel, Veronal, sowie das Aufnahmebuch des Jüdischen Krankenhauses, das die Einlieferungen wegen Schlafmittelvergiftung akribisch verzeichnete. Glückte ein Selbstmordversuch nicht, mußten die Ärzte alles daransetzen, dem Patienten zur Genesung zu verhelfen, damit er auf die nächste Transportliste gesetzt werden konnte. Bevor die Berliner Juden „abwanderten“ – wie es in der NS-Terminologie hieß – mußten sie mehrere Tage in einem Sammellager verbringen.

„Papa! Sind abgeholt. Komme sofort nach zur Gr. Hamburger. Klaus und Mama“, schrieb der sechzehnjährige Klaus Scheurenberg auf die Rückseite eines Rezeptes. Der Vater, der selbst als jüdischer Ordner arbeiten mußte, konnte seine Familie diesmal noch aus dem Sammellager freibekommen, später jedoch wurden auch die Scheurenbergs deportiert. Sie überlebten durch glückliche Umstände. In einem Videofilm zu dieser Station berichten andere Zeitzeugen, die als Häftlinge ins Sammellager gekommen oder als Helfer dort tätig waren, von den Abläufen und den Tragödien, die sich in diesen Lagern abspielten. Dort bekamen die zu Deportierenden ihre Transportnummer, die auf alle Gepäckstücke aufgenäht werden mußte. Eine dieser Nummern ist in der Ausstellung zu sehen. Bevor die Juden den Weg ins Sammellager antraten, hatten sie dafür zu sorgen, die Wohnung in ordentlichem Zustand zu hinterlassen, Strom- und Gasrechnungen zu bezahlen und den Wohnungsschlüssel an der nächsten Polizeiwache zu hinterlegen. Die Polizei versiegelte dann die Wohnung vorläufig, bis das Mobiliar ausgeräumt und die Wohnung an einen neuen, nichtjüdischen Mieter übergeben wurde. Auch ein solches Papiersiegel ist erhalten geblieben und wird in der Ausstellung gezeigt.

Vor der Deportation mussten 16seitige Vermögenserklärungen abgegeben werden, die zu Zehntausenden in den Oberfinanzdirektionen bis heute erhalten geblieben sind. Seit einiger Zeit stehen sie der Forschung zur Verfügung. So können wir beispielhaft einen Einblick in die Akte der Opernsängerin Therese Rothauser geben, die kaum noch nennenswertes Vermögen besessen hatte, als sie als fast 80jährige den Weg nach Theresienstadt antreten mußte. Den Deportationstransporten wurden auch „Schutzhäftlinge“ angeschlossen. So sind in der Station 8 Briefe zu sehen, die Walter Oppenheimer und seine Lebensgefährtin Rose Scharnberg als Kassiber in das Polizeigefängnis Lehrter Straße hinein- oder hinausschmuggelten. Oppenheimer, der jüdischer Herkunft war, gehörte zu einer Gruppe der Bekennenden Kirche, die versteckten Juden geholfen hatte. Während des halben Jahres seiner Haft bestach seine Lebensgefährtin Gestapobeamte, um ihn vor der Deportation nach Auschwitz zugunsten des „Vorzugslagers“ Theresienstadt zu bewahren – vergebens.

Doch ebenso

wie in jeder Station die Bedrohung deutlich wird,werden auch die Bemühungen um Selbstbehauptung, um die Erhaltung der Würde und um Solidarität gezeigt: Wie Jugendliche die Torarollen retteten, wie sie versuchten, das Tragen des gelben Sterns zu umgehen, wie Selbsthilfe und Selbstbehauptung organisiert und beispielsweise auch später illegal bei zionistischen Gruppen aufrechterhalten werden konnten, wie jüdisches Personal den zur Deportation Aufgerufenen beistand, davon zeugen Fotos, Interviewausschnitte und Videoaufzeichnungen. Gefälschte Personalpapiere – von der Kennkarte bis hin zur Volkssturmeinberufung, vom Betriebsausweis bis zur Fliegerschadensbescheinigung – belegen in einer anderen Ausstellungsstation den Überlebenswillen, den Mut und die Pfiffigkeit derjenigen, die als „U-Boote“ im Berliner Untergrund verdeckt oder versteckt überlebt haben. In Kellern, auf Dachböden, in teilweise zerstörten Wohnungen oder in Laubenkolonien mußten sie auf Schritt und Tritt Kontrollen, Denunziationen und Entdeckung befürchten. Oft genug fielen sie gewissenlosen Geschäftemachern oder privaten Ausbeutern in die Hände, erhielten aber auch uneigennützige Hilfe von Freunden, ehemaligen Angestellten oder nichtjüdischen Familienmitgliedern, von gläubigen Christen oder Atheisten, von Puffmüttern und Prostituierten.

 
 

Im historischen Repräsentantensaal

der Neuen Synagoge zeigt eine Großprojektion die Porträts und Kurzlebensläufe der Männer und Frauen, die im Vorstand oder als leitende Mitarbeiter die vielfältigen Aktivitäten der Jüdischen Gemeinde, der Reichsvereinigung der Juden und der jüdischen Institutionen nach 1938 wesentlich getragen haben (Station 12). Viele bezahlten dieses Engagement mit dem Leben, einige überlebten die Konzentrationslagerhaft. In diesem historischen Saal fand schließlich der berüchtigte Appell am 20. Oktober 1942 statt (Station 13), bei dem über 500 Gemeindeangestellte zur Deportation bestimmt wurden.

Als die Reichsvereinigung im Juni 1943 offiziell aufgelöst wurde, wurden nun auch die Mitarbeiter und Repräsentanten nach Theresienstadt deportiert. Von den vielen jüdischen Institutionen in Berlin existierten nur noch der Friedhof in Weißensee und das Jüdische Krankenhaus im Bezirk Wedding. Der berüchtigte Direktor des Krankenhauses, Dr. Dr. Walter Lustig, leitete dort die sogenannte Rest-Reichsvereinigung. Hier wurden nicht nur Kranke behandelt, sondern alle Personen inhaftiert, deren Abstammung aus Sicht der Nationalsozialisten  der Klärung bedurfte (Station 15).

Repräsentanten und MitarbeiterInnen der Jüdischen Gemeinde und der Reichsvereinigung der Juden in Deutschland

geb. 23.5.1873, Rabbiner der Jüdischen Gemeinde, Vorstand der Gemeinde und der Reichsvereinigung, Lehrer an der Hochschule für die Wissenschaft des Judentums. Er wurde am 26.1.1943 nach Theresienstadt deportiert, arbeitete dort im Ältestenrat. Nach der Befreiung emigrierte er nach Großbritannien, lehrte später ab 1948 am Hebrew College in Cincinnati. Baeck starb am 2.11.1956 in London.

geb. 23.1.1890, Professorin für Volkswirtschaftslehre, arbeitete in der Reichsvereinigung in der Abteilung Auswanderung und kümmerte sich besonders um die Auswanderung von Mädchen und Frauen. Am 26.6.1942 wurde sie bei einem Kontrollbesuch der Gestapo zur Deportation bestimmt, eine Woche später in den Osten deportiert und im Alter von 52 Jahren ermordet.

geb. 5.9.1914, Volksschullehrerin, arbeitete in den Hachscharahlagern Gut Arensdorf und Landwerk Neuendorf. Sie wurde am 19.4.43 nach Theresienstadt, dann nach Auschwitz deportiert. Es gelang ihr, im April 1945 vom Todesmarsch zu flüchten. 1945 wanderte sie in die Schweiz, 1947 nach Palästina aus. Sie arbeitete dort als Heilpädagogin. Ora Borinski starb 1997.

geb. 25.11.1901, Mitglied des Vorstandes der Jüdischen Gemeinde Berlin, leitete die Abt. Fürsorge. Er wurde im Frühjahr 1942 inhaftiert, weil in einem Kinderheim Vorkriegsseife nicht ordnungsgemäß abgeliefert und verbucht worden war. Am 15.8.1942 verstarb er im KZ Sachsenhausen im Alter von 41 Jahren.

geb. 5.11.1883, Kultusreferent der Jüdischen Gemeinde. Er wurde am 21.1.1941 verhaftet, vermutlich weil er sich für einen Fastentag anläßlich der Deportation der Badischen Juden engagiert hatte. Zunächst ins „Arbeitserziehungslager“ Wuhlheide eingewiesen, wurde er dann nach Sachsenhausen verlegt und starb schließlich in KZ Ravensbrück am 21.11.1941 im Alter von 58 Jahren.

geb. 4.3.1902, Privatdozent für Nationalökonomie, wie Baeck Vorstand der Jüdischen Gemeinde und der Reichsvereinigung. Er war einer der wichtigsten Verhandlungsleiter mit den Behörden, vor allem der „Aufsichtsbehörde“, der Gestapo. Er wurde mehrfach verhaftet und wieder freigelassen, zusammen mit seiner Frau Hedwig am 26.1.1943 nach Theresienstadt deportiert, wo er als Judenältester eingesetzt wurde. Vermutlich am 27.9.1944 wurde er – nach Arrest – dort erschossen. Er war bei seinem Tod 42 Jahre alt. Dr. Hedwig Eppstein, Sozialarbeiterin, arbeitete als „Ehefrau“ unentgeltlich bei der Jugendfürsorge der Gemeinde, sie wurde in Theresienstadt oder in Auschwitz im Alter von 40 Jahren ermordet.

geb. 22.9.1902, leitete die Organisationsabteilung in der Reichsvereinigung. Er wurde im Juni 1943 nach Theresienstadt deportiert, jedoch nach kurzer Zeit nach Berlin zurückgebracht, weil die Gestapo ihn für komplizierte Abwicklung des Reichsvereinigungsvermögens benötigte. Fabian überlebte bis Kriegsende im Sammllager Schulstraße. Nach dem Krieg emigrierte er 1949 in die USA, wo er im Alter von 72 Jahren 1974 starb.

geb. 29.11.1892, gründete die Jugend-Alijah. Sie unternahm illegale Aktionen zur Rettung polnischer Juden und wurde deshalb 1940 aus dem Palästinaamt entlassen. Sie floh 1941 über Jugoslawien nach Palästina, wo sie ein Ausbildungscentrum für unterprivilegierte Kinder in einem Kibbuz gründete. 1984 starb sie in Jerusalem.

geb. 6.8.1894,Schulleiterin, Leiterin der Abt. Schule der Reichsvereinigung. Sie begleitete 1939 einen Kindertransport nach England und kehrte trotz dieser Fluchtmöglichkeit zurück. Sie wurde am 26.6.42 in den Osten deportiert und im Alter von 48 Jahren ermordet. , geb. 6.8.1894,Schulleiterin, Leiterin der Abt. Schule der Reichsvereinigung. Sie begleitete 1939 einen Kindertransport nach England und kehrte trotz dieser Fluchtmöglichkeit zurück. Sie wurde am 26.6.42 in den Osten deportiert und im Alter von 48 Jahren ermordet.

geb. 29.4.1897, Mitarbeiterin der Gesundheitsverwaltung der Jüdischen Gemeinde. Sie wurde am 16.6.1943 mit ihrem Ehemann Moritz zusammen nach Theresienstadt deportiert. Sie überlebte das KZ und emigrierte nach dem Krieg nach Palästina, wo sie als Putzfrau arbeiten mußte. Im Eichmann-Prozeß trat sie als Zeugin auf. Sie starb 1983 in Israel im Alter von 86 Jahren.

geb. 17.2.1879, Rechtsanwalt. Als Nachfolger Heinrich Stahls war er von 1940 – 1943 Vorsitzender der Jüdischen Gemeinde. Zusammen mit seiner Ehefrau wurde er im Juni 1943 nach Theresienstadt deportiert, leitete dort den Bereich Freizeitgestaltung und später die Poststelle. Er emigrierte mit seiner Frau 1946 nach Palästina, starb dort 1947 an den Folgen der KZ-Haft im Alter von 68 Jahren.

1885-1941, würtembergischer Ministerialrat, ging 1933 nach Berlin, um als Geschäftsführer der Reichsvertretung, später im Vorstand der Reichsvereinigung zu arbeiten. Er wurde mehrfach verhaftet und schließlich im Februar 1941 ins Polizeigefängnis am Alexanderplatz gebracht, von dort nach Mauthausen deportiert und – wahrscheinlich 1941 – im Alter von 56 Jahren ermordet.

geb. 1888, studierte Geschichte, leitete von 1920 bis 1938 das „Gesamtarchiv der deutschen Juden“ und veröffentlichte mehrere Werke zur Geschichte der Juden in Preußen. Die Gestapo verbot seine Auswanderung, weil sie ihn als Spezialisten für jüdische Familiengeschichte brauchte; im Mai 1943 wurde er nach Theresienstadt deportiert, überlebte das KZ und emigrierte 1945 nach England. Er starb 1968 bei einem Besuch in Bad Neuenahr.

geb. 24.7.1897, Kindergärtnerin u. Sozialarbeiterin, arbeitete sehr aktiv im Jüdischen Frauenbund, leitete in der Reichsvereinigung den Bereich Wohlfahrtspflege. Sie wurde am 9.12.1942 nach Auschwitz deportiert und dort im Alter von 45 Jahren ermordet.

geb. 29.1.1894, Rechtsanwalt und Notar, gehörte zum Vorstand der Reichsvereinigung und war dort verantwortlich für das Wohnungs- u. Versorgungswesen. Im Januar 1943 wurde er zusammen mit Baeck, Eppstein, seiner Frau und seinen Kindern nach Theresienstadt, von dort – wahrscheinlich 1944 – nach Auschwitz deportiert und im Alter von 50 Jahren ermordet.

geb. 23.9.1886, dienstältester Angestellter der Jüdischen Gemeinde, leitete die Wohlfahrtsabteilung und war verantwortlicher Redakteur des Jüdischen Nachrichtenblattes. Er erlitt im November 1942 einen Herzinfarkt, als die Gestapo seine Abteilung zum Appell antreten ließ. Bei seinem Tod war er 56 Jahre alt.

geb. 21.12.1876, Leiter der Wohlfahrts- u. Jugendpflegestelle, Vormund zahlreicher jüdischer Kinder. Er wurde nach der Gemeinde-Aktion als Geisel für untergetauchte zur Deportation bestimmte andere Mitarbeiter genommen und am 1.12.1942 erschossen. Er wurde 66 Jahre alt.

geb. 13.3.1899, im Vorstand der Reichsvereinigung. Er wurde im Juni 1942 bei einem Kontrollbesuch der Gestapo zur Deportation bestimmt und ist „verschollen im Osten“. Er war 43 Jahre alt.

geb. 29.5.1884, studierte Musik und Jura arbeitete als Verwaltungsjuristin im Berliner Polizeipräsidium bis zu ihrer Entlassung 1933. Bei der Reichsvereinigung leitete sie die Wohnungsberatungsstelle. Am 16. Juni 1943 wurde sie nach Theresienstadt deportiert, überlebte das KZ und trat nach dem Krieg wieder in den Berliner Justizdienst ein. Später arbeitete sie im Polizeipräsidium. Sie starb 1977 im Alter von 93 Jahren.

Mitarbeiterin der Jugend-alijah, wurde am 26.1.1943 nach Theresienstadt deportiert und von dort nach Auschwitz, wo sie am 30.10.1944 ermordet wurde. Sie wurde 45 Jahre alt.

geb. 1896, ab 1933 Prediger und Seelsorger im Altenheim der Jüdischen Gemeinde zu Berlin, von Juni 1943 bis Mai 1945 Leiter der Abteilung Bestattungswesen der Reichsvereinigung, 1945 bis 1953 Prediger der Jdüischen Gemeinde zu Berlin, ab dort 1953 Rabbiner, 1961 wurde er zum Landesrabbiner der Jüdischen Gemeinden in der DDR ernannt. Riesenburger starb 1965.

16.5.1911, leitete die zionistische Jugendbewegung und war bis 1941 im Palästina-Amt, danach in der Finanzabteilung der Reichsvereinigung tätig. Er arbeitete verdeckt für den Hechaluz. Nach der Gemeinde-Aktion wurde er als Geisel für untergetauchte andere Mitarbeiter genommen und am 1.12.1942 – vermutlich in Sachsenhausen – im Alter von 31 Jahren erschossen.

7.5.1890, Rechtsanwalt, arbeitete im Vorstand der Reichsvereinigung, insbesondere im Bereich Auswanderung. Er wurde im November 1940 verhaftet, weil die Reichsvereinigung einen Fastentag wegen der Deportation der badischen Juden ausgerufen hatte und er als Urheber dieser Idee galt. Er wurde im KZ Sachsenhausen zu Tode gequält, er starb im Februar 1942 im Alter von 51 Jahren.

geb. 13.4.1868, Direktor der Victoria-Versicherungsgesellschaften, Vorsitzender der Jüd. Gemeinde in Berlin bis zu seiner Absetzung 1940. Die Gestapo verbot seine Auswanderung, er wurde am 11.6.1942 mit seiner Ehefrau nach Theresienstadt deportiert, verstarb dort am 4.11.1942 im Alter von 74 Jahren.

geb. 25.3.1890, war Schauspieler und Intendant, Leiter des Jüdischen Kulturbundes. Er überlebte in Berlin dank seiner „privilegierten Mischehe“ und arbeitete ab 1945 wieder als Intendant an Berliner Theatern. Er starb am 12.12.1962 in Berlin.

geb. 13.4.1904, arbeitete zusammen mit Recha Freier im Palästinaamt und wurde ebenfalls wegen illegaler Aktionen zugunsten polnischer Juden ausgeschlossen. Offiziell „Mischling ersten Grades“ nutzte sie ihre größere Bewegungsfreiheit und unterstützte untergetauchte Juden. 1944 wurde sie von der Gestapo gefaßt, gefoltert und verurteilt. Sie überlebte 17 Gefängnisse und das KZ Ravensbrück. 1954 emigrierte sie nach Israel, wo sie auch starb.

Begleitband / Katalog

Der Begleitband folgt in seiner thematischen Einteilung den fünfzehn Stationen der Ausstellung. Einige versieht er mit Hintergrundinformationen […], bei anderen vertieft er die individuellen Lebensgeschichten.

Unsere Ausstellung “Juden in Berlin” ist nur durch die von verschiedenen Zeitzeugen gewährten Interviews zustande gekommen. Selbstzeugnisse sind für die Rekonstruktion der Geschehnisse von ganz entscheidender Bedeutung, ja eine der wichtigsten Quellen, die wir überhaupt haben. Das gilt insbesondere dann, wenn es darum geht, die Perspektive der Betroffenen zu rekonstruieren und deren Verfolgungserfahrungen darzustellen. Um den Charakter der Ausstellung in diesem Punkt auf den Begleitband zu übertragen, haben wir uns entschlossen, Selbstzeugnisse als ein die Beiträge verbindendes Element in Form von Marginalien durch das ganze Buch zu ziehen. Sie sollen einen Einblick in Zeit und Umstände geben, erleichtern aber zugleich die Orientierung im vorliegenden Band.

Good to know.

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